: Heute weniger vertrieben
■ Peu a peu wird das Vertriebenengesetz verändert / 14 Millionen kamen seit 1945 in die BRD, 800.000 im letzten Jahr
Flüchtlinge aus der Türkei, dem Iran oder aus Sri Lanka hatten noch vor wenigen Jahren Grund, neidisch auf eine andere Gruppe von Ausländern zu blicken: die Polen. Wie alle, die aus dem sogenannten kommunistischen Machtbereich in die Bundesrepublik geflohen sind, hatten die Polen wenig Probleme, als Asylberechtigte anerkannt zu werden. Die Gruppe der Deutschstämmigen hatte es dabei besonders leicht. Wer nachweisen konnte, daß seine Vorfahren dem deutschen Volkstum nachhingen, kam als Vertriebener in den Genuß besonderer Privilegien. Das entsprechende Gesetz wurde von den Nationalsozialisten aus der Taufe gehoben, mit dem nationalen Bekenntnis war Anfang der 40er Jahre die Zustimmung zur damaligen Politik gemeint - was im westlichen Nachkriegsdeutschland nicht weiter störte.
Denn nach Meinung der Innenministerien von Bund und Ländern, notierte der Hamburger Jura-Professor Helmut Rittstieg (in seinen Thesen zur Abschaffung der Vertriebenengesetze, siehe taz von gestern), bestand noch in den 50er Jahren ein „fortwirkender Vertreibungsdruck“ für deutschstämmige Osteuropäer. Das aber hatte schon bald mehr mit dem ideologischen Weltbild der Innenminister als mit der Realität zu tun.
Ergebnis: Rund 14 Millionen mit dem Vertriebenenstatus Ausgestattete kamen nach 1945, allein im letzten Jahr waren es - zusammen mit den DDR-Übersiedlern - an die 800.000 Menschen. Mit dem Anschnellen der Aussiedlerzahlen Mitte der 80er Jahre verengten sich die Zuzugsmöglichkeiten. Wurden Polen mit nicht zu belegenden deutschen Vorfahren zuerst „geduldet“, brauchten sie schon bald eine Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis.
Über die Parteigrenzen hinweg ist man sich in der Bundesrepublik jetzt einig, daß das Boot voll sei beziehungsweise die letzten Plätze mit Deutschen erster Klasse, denen aus der DDR, belegt werden sollen. Der Grund für die Eile, die vor allem die SPD jetzt an den Tag legt, ist in der UdSSR zu suchen: Ab Mitte dieses Jahres wird die Sowjetunion ihre Grenzen für Deutschstämmige öffnen. Hunderttausende oder gar Millionen, so fürchtet man jetzt in Bund und Ländern, sitzen dort auf gepackten Koffern. Wieviele Rumäniendeutsche in den Startlöchern hocken, ist noch nicht abzusehen. Einschränkungen des Zuzugs, Streichung von Vergünstigungen - all das wäre in den Bundesländern schon jetzt möglich. Doch auch die SPD-regierten Länder scheuen vor einem Alleingang zurück: „Ein verfahrensrechtlicher Flickerlteppich bringt nichts“, meint etwa Hamburgs SPD-Sozialsenator Ortwin Runde und weist auf eine dann zu erwartende „Völkerwanderung“ innerhalb der Republik hin.
Eine veränderte Gesetzgebung können sich mittlerweile selbst Berufsvertriebene vorstellen. So favorisiert Willibald Piesch, Chef der Oberschlesier in Hamburg, eine Verlegung der Volkstumsprüfung in die Herkunftsländer der Aussiedelungswilligen. Dort solle dann die Selektion der mehr oder weniger Deutschen stattfinden. Oberschlesier Piesch hofft anscheinend, Vertriebenenorganisationen könnten als externer Sachverstand herangezogen werden.
Axel Kintzinger
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