■ Heute beginnt in Helsinki die Konferenz des Europäischen Rates. Die 15 Regierungschefs der bisherigen Mitgliedsstaaten wollen beraten, welche beitrittswilligen Staaten wann in die Europäische Union aufgenommen werden sollen. Grund genug für eine Nachfrage:: Ist Europa größer als Euro-Land?
Als eine polnische Journalistin Romano Prodi zwei Tage vor dem Helsinki-Gipfel fragte, wie denn Polen planmäßig im Jahr 2003 beitreten solle, wenn die EU-Reform erst Ende 2002 abgeschlossen sei, versteckte sich der EU-Kommissionschef hinter freundlich-nichtssagenden Floskeln. Viel aufschlussreicher war die Reaktion der westeuropäischen Kollegen im Saal: Sie lachten und tauschten vielsagende Blicke. „Die glaubt das tatsächlich“, schienen die meisten zu denken, „dass sie 2003 EU-Bürgerin wird.“
Die professionellen Beobachter des Brüsseler Geschäfts bleiben skeptisch. Während sich slowakische Spitzenpolitiker die Klinke in die Hand geben, Ukraines Präsident Kutschma bei Prodi vorbeischaut, um sein Land als Kandidaten ins Gespräch zu bringen, haben sie längst die Rechnung aufgemacht: Sechs neue Mitglieder würden die Bevölkerung der EU um ein Drittel erhöhen, das Bruttosozialprodukt aber nur um 8,9 Prozent steigen lassen. Die Wachstumseffekte, die ein vergrößerter Binnenmarkt bringt, sind dabei zwar nicht berücksichtigt. Zumindest westdeutsche Journalistenkollegen wissen aber aus Erfahrung, was es wirtschaftlich bedeutet, wenn arme Verwandte beitreten. Auch andere Rechnungen sind durchaus reizvoll. Würden die Regeln der Agenda 2000 auf die polnische Landwirtschaft von heute angewandt, dann wäre die bis 2006 festgeschriebene Haushaltsdisziplin – das EU-Budget darf 1,27 Prozent des Bruttosozialprodukts der Mitglieder nicht übersteigen – nicht einzuhalten. Würden die bestehenden Regelungen für simultanes Übersetzen großer Konferenzen auf ein Europa der 21 übertragen, müsste für die Dolmetscherkabinen ein Saal gebaut werden, der so groß wäre wie ein Fußballfeld.
Dass solch praktische Überlegungen derzeit bei Politikern keine Konjunktur haben, liegt am Kosovo-Schock. Seit europäische Außenpolitiker sich angewöhnt haben, die EU-Erweiterung als wirksamste Form der Krisenprävention anzusehen, gelten Kommentatoren, die Dolmetscherkabinen hochrechnen, als kleinmütig.
Die eiserne Regel „Keine Erweiterung ohne vorherige Vertiefung“ scheint an Gültigkeit zu verlieren, je näher das neue Jahrtausend rückt, das ein neues Europa bringen wird. Ohne qualitativen Sprung im politischen Gemeinschaftsleben der 15 – so hieß es bislang – sei ein Europa der 21, der 28 undenkbar. Erst die institutionelle Reform, die Grundrechtscharta, die Demokratisierung werde Europa „fit machen“ für die Erweiterung.
Plötzlich scheint dieser Zusammenhang nicht mehr zu gelten. Romano Prodi, bislang ein starker Befürworter weit reichender Reformen, sagte zwei Tage vor dem Helsinki-Gipfel, man käme zur Not auch mit den „Leftovers“ zurecht. Gemeint sind die Tagesordnungspunkte, die beim letzten Reformgipfel in Amsterdam nicht erledigt werden konnten, aber als Minimalvoraussetzung für die Erweiterung gelten.
Nur ein knappes Jahr wird die Regierungskonferenz dauern, die das erweiterte Europa handlungsfähig machen soll. Die Minimalziele, die erreicht werden müssen, stehen schon heute fest: Die qualifizierte Mehrheit bei Abstimmungen im Ministerrat soll das Einstimmigkeitsgebot in fast allen wichtigen Entscheidungsbereichen ersetzen. Die Stimmenzahl, über die jedes Land im Rat verfügt, soll neu ausgehandelt werden, damit sie die Zahl der Landsleute, für die der jeweilige Minister entscheidet, gerechter widerspiegelt. Das Prinzip, nach dem jedes noch so kleine Land mindestens ein Kommissionsmitglied stellt, soll durch eine an Sachfragen orientierte Ressortstruktur der Brüsseler Verwaltung abgelöst werden. „Vertrag von Nizza“ könnte das neue Reformwerk heißen, denn dort werden sich die Regierungschefs Ende 2000 zum Abschluss der französischen Präsidentschaft versammeln. Romano Prodi gefällt der Gedanke.
Nice heißt die Stadt an der Cote d'Azur in der Originalsprache – und das stehe im Englischen schließlich für nice, nett. Südfranzösische Leichtigkeit soll wohl alle lästigen Fragen vergessen machen: Welche politische Autorität kann ein Parlament haben, dem die Hälfte der Bevölkerung der Europäischen Union im Juni per Wahlstreik die Legitimation verweigert hat? Woran sollen sich die Bürger im unübersichtlichen europäischen Organisationsgeflecht orientieren? Die Strukturen sind historisch so verquer gewachsen, dass auch politisch interessierte Europäer kaum auseinanderhalten können, wofür Ministerrat, Kommission und Parlament eigentlich zuständig sind. Wer kennt schon die Aufgabe von Mister Gasp? Die Zuständigkeitsbereiche von WEU, Europarat und OSZE? Wer kann die Frage beantworten, ob Europas ChefIn Mario Prodi heißt oder Nicole Fontaine oder Neuvoston Puheengohtaga? (Was keineswegs der Name des finnischen Ministerpräsidenten ist – wie manche Brüsseler Kollegen glauben –, sondern das finnische Wort für Ratspräsidentschaft.
Es mag sich lohnen, gedanklich ein ganz neues Szenario durchzuspielen: Was geschieht, wenn der Leitsatz der vergangenen Jahre – keine Erweiterung ohne Vertiefung von Kerneuropa – ersetzt wird durch: Erweiterung statt Vertiefung von Kerneuropa. Viele Fragen beantworteten sich dann von selbst. Wo endet Europa? An der Außengrenze des letzten beitrittswilligen Landes, das die Aufnahmekritierien erfüllt hat. Wenn die Türkei ihre Folterkeller schließt, wenn die Ukraine ihre Wirtschaft auf Vordermann bringt, Weißrussland freie Wahlen ausschreibt, wenn Boris Jelzin ein Autonomiestatut für Tschetschenien unterschreibt – dann reicht Europa irgendwann im neuen Jahrtausend von Lissabon über Hammerfest und Murmansk, Swertlowsk und Adana bis hinunter nach Palermo.
Auch die Frage nach der europäischen Identität würde sich dann erübrigen. Der parlamentarische Dialog wäre nicht mehr organisierbar, das Europaparlament würde aufgelöst. Europaschulen mit 40 und mehr Sprachsektionen erforderten das Management multinationaler Konzerne – sie würden abgeschafft. Die großeuropäische Kommission in Brüssel würde zur Schaltstelle der Macht – denn europäische Gipfeltreffen liefen dann wahrscheinlich ähnlich ratlos ab wie kürzlich die Konferenz von Seattle.
Wenn dadurch das nächste Balkan-Desaster, der nächste Krieg im Kaukasus verhindert werden könnte, wäre dieser Preis vielleicht nicht einmal zu hoch. Allerdings sind Irland und Großbritannien seit 1974 Mitglieder der EU. Die Fanatiker in Nordirland hat das 25 Jahre lang nicht gehindert, ihren Bürgerkrieg fortzusetzen. Wer den Bürgern der heutigen Union also in Aussicht stellt, dass sie politische Rechte einbüßen, dafür aber politische Stabilität bekommen, der muss sich fragen lassen, ob er garantieren kann, was er da verspricht.
Daniela Weingärtner, Brüssel
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