Hessen-Debakel: Ypsilanti stolpert kurz vor dem Ziel
Andrea Ypsilanti scheitert an ihrem Widersacher Jürgen Walter - und an ihrer Ungeduld. Nun bleibt der Hessen-SPD nur eine Wahl: Pest oder Cholera.
Andrea Ypsilanti hat alles riskiert und alles verloren. Sie ist ganz kurz vor dem Ziel gescheitert. Das ist - fast - der größte anzunehmende Unfall. Fast, weil es noch schlimmer gewesen wäre, wenn sie erst am Dienstag, bei der Wahl zur Ministerpräsidentin, verloren hätte. Dann hätte sie jedermann im Moment ihrer totalen Niederlage beobachten können. Die Demütigung ersparten ihr die vier SPD-Abweichler. Ein schwacher Trost.
Man kann dieses Scheitern so erzählen: als Geschichte von zwei Politikern, die keinen Kompromiss miteinander schließen konnten und die deswegen nun, in einer letzten ironischen Pointe, zusammen unterzugehen scheinen. Es ist die Geschichte von Jürgen Walter, dem ehrgeizigen, wirtschaftsnahen Anwalt, der die SPD ohne mit der Wimper zu zucken zum Juniorpartner der Koch-CDU gemacht hätte. Und von der linken Sozialdemokratin Andrea Ypsilanti, die von einem anderen Hessen träumte, von einem egalitären Bildungssystem und einer ökologischen Energiepolitik. Der Pragmatiker, der manchem FDPler zum Verwechseln ähnlich ist, und die Visionärin, die, so hessische SPD-Linke, auch weit "über den Tag hinaus" denkt. Zu weit.
Es ist die Geschichte persönlicher Rivalität, von weit auseinanderliegenden politischen Überzeugungen und von Verletzungen. Sie begann im Dezember 2006. Andrea Ypsilanti war damals über Hessen hinaus nur bekannt, weil Schröder mal über diese "Frau XY" gehöhnt hatte. Doch in Rotenburg beim SPD-Parteitag schlug sie, die Außenseiterin, ihren Konkurrenten Walter mit ganz knapper Mehrheit. Seit diesem 3. Dezember hat sie bestimmt, wo es lang ging. Sie hat die SPD bei der Wahl im Januar 2008 fast zur stärksten Partei gemacht. Sie hat die SPD danach, angesichts des Patts im Parlament, mit einem Reißschwenk Richtung Linkspartei-Tolerierung manövriert. Sie hat gehandelt, Walter hat reagiert. Und verloren. Im April, beim Parteitag in Hanau, wollte er die Linkspartei-Tolerierung kippen, plädierte für eine Koalition mit dem in der SPD verhassten Koch und wurde von den Genossen ausgebuht. Damals stand Ypsilanti wegen ihres Wortbruchs bundesweit mächtig unter Druck. Doch sogar das nutzte Walter nichts. Ypsilanti wurde in der hessischen SPD immer mächtiger, er zur Randfigur mit einem unübersichtlichen Zickzackkurs. Am Ende handelte Walter den rot-grünen Koalitionsvertrag mit aus, stimmte im Parteivorstand dafür und am Samstag beim SPD-Parteitag dagegen.
Die Niederlage von Rotenburg verfolgt Walter bis heute. Warum, so wurde Jürgen Walter am Montag immer wieder gefragt, hat er nicht schon im Februar, als Dagmar Metzger bekundete, Ypsilanti nicht zu wählen, opponiert? Warum diese Attacke in letzter Sekunde, die er selbst für "zu spät" hält? Weil er, so bekannte Walter, fürchtete, dass ein Nein im Februar nach Rache für Rotenburg ausgesehen hätte. Er hätte als schlechter Verlierer gegolten. Und das wollte er nicht.
Jürgen Walter hatte am Ende nichts mehr zu verlieren. Manche glauben, dass die Ressortaufteilung der Knackpunkt war. Ypsilanti wollte den linken Hermann Scheer zum Wirtschaftsminister, und nicht Walter. Aber das ist jetzt Makulatur. Genauso wie Jürgen Walters Karriere in der SPD. Denn die Wut in der SPD auf die Abweichler im letzten Moment ist groß. "Charakterlos", schimpfte der Kieler SPD-Chef Ralf Stegner, sei dies, "unsolidarisch" die NRW-Chefin Hannelore Kraft. Das ist eine Art rhetorischer Parteiausschluss.
Andrea Ypsilanti hatte am Samstag beim Parteitag in Fulda unsicher und fahrig gewirkt. So als hätte sie geahnt, was kommt. Kaum ein hiesiger Politiker ist mit so viel Etiketten versehen worden wie sie. Bis zu ihrem Wortbruch im Februar galt sie sogar in Boulevardmedien als "Shooting-Star" der SPD, als sympathisch, warmherzig, glaubwürdig und so ganz anders als Roland Koch. Danach war sie "Lügilanti", kalt, berechnend, machtfixiert und unprofessionell.
Richtig ist, dass sie nach der Wahl einen gravierenden Fehler gemacht hat. Allerdings war dies weniger ein fundamentaler moralischer Defekt. Denn das Dilemma war ja real: Ohne Linkspartei gab es keine Regierungsmehrheit. Klug wäre gewesen, länger zu warten, dem Publikum ausgiebig die Unwilligkeit der FDP, mit Rot-Grün zu koalieren, vor Augen zu führen und Koch geschäftsführend regieren zu lassen. Und dann, als allerletzte Möglichkeit, die Linkspartei-Tolerierung ins Gespräch zu bringen. Doch Ypislanti ging forsch ans Werk, zu forsch.
Im Sommer, so sahen es viele, hatte sie die Lektion, die Dagmar Metzger ihr verabreicht hatte, gelernt. Ypsilanti berief Regionalkonferenzen ein und verschaffte sich so neues Glaubwürdigkeitskapital. Es lief gut - bis Jürgen Walter rebellierte und nicht ins Kabinett ging, weil er auf Biegen und Brechen Wirtschaftsminister werden wollte. Und Ypsilanti unbedingt Scheer wollte.
Es ist müßig zu spekulieren, ob Walter und Ypsilanti, die Rivalen, es in einem Kabinett ausgehalten hätten. Sicher ist, dass Ypsilanti nicht nur über Walter gestürzt ist. Sondern auch über ihren Mangel an Geduld und Geschick. Wer seine Gegner an die Wand drückt, darf sich nicht wundern, wenn sie am Ende um sich schlagen.
Die SPD in Hessen hat jetzt die Wahl zwischen Pest und Cholera. Sie kann Juniorpartner in einer großen Koalition werden. Das würde ihr den Ruch des blanken Opportunismus einhandeln. Von Ypsilantis Traum von einem anderen Hessen zum kalten Machtpragmatismus - das ist ein Temperatursturz, den keine Partei schadlos übersteht. Die Alternative sind Neuwahlen, bei denen eine zerrissene, demoralisierte SPD gegen einen wieder erstarkten Roland Koch antritt. Und hoffen muss, nicht völlig unter die Räder zu kommen.
Die Wut über die Abweichler wird vergehen. Was bleibt, ist die Niederlage. Ypsilantis Rücktritt wäre naheliegend. Aber ob er der SPD nutzt, ist zweifelhaft.
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