Herr Wurm aus Wien macht Kunst mit VW: Widerständiges Scheitern
Das Kunstmuseum Wolfsburg widmet dem Bildhauer Erwin Wurm eine große Ausstellung. Der Wiener lässt Nadelbäume von der Hallendecke wachsen und spannte bereitwillige VW-Ruheständler für ein neues Objekt im Freien ein.
Der Katastrophe lässt sich auf mehrerlei Weise begegnen. Eine besteht darin, erfinderische Kräfte freizusetzen, in kritischer, im Idealfall ironischer Distanz zum Geschehen, um dessen Absurdität nachzuweisen. Das ist das Mittel einer aufgeklärten Wissenschaft – oder der Kunst. Eine widerborstige Spielart dieser Weltbewältigung wird seit Beginn des 20. Jahrhunderts in Österreich gepflegt, mit Epizentrum in Wien.
Hier sezierte rund um den Zusammenbruch der K.-u.-k.-Monarchie und eines bigotten Katholizismus Sigmund Freud per Psychoanalyse die düstersten Triebkräfte im menschlichen Unbewussten. Und hier dekonstruierte Ludwig Wittgenstein die Sprache als ein Zeichensystem, das vor den Sachverhalten der Wirklichkeit immer wieder versagt. Wovon man nicht reden kann, so seine zum Aphorismus verkommene These, darüber muss man schweigen.
Wiener ist auch der Bildhauer Erwin Wurm, Jahrgang 1954, und er steht in dieser diagnostischen Tradition. Seine Kernqualifikation: die Entfunktionalisierung und Sinn entziehende Umwidmung von Dingen des alltäglichen Lebens. Das Kunstmuseum Wolfsburg hat ihn jetzt zu einer großen Werkschau eingeladen, die er in der Ausstellungshalle und draußen auf dem zugigen Hollerplatz absolviert.
Hier steht schon mal einer der Blickfänge: der gut fünf Meter lange, butter- bis senfgelbe „Curry Bus“. Die eigens für Wolfsburg geschaffene Arbeit gehört in Wurms Werkreihe mit fetten Autos, die in adipöser Anomalie selbst vormals rasante Schlitten zur vollkommenen Immobilität verdammen. Gut – die Idee, in dem zugrunde liegenden VW-Oldie, einem Kastenwagen anno 1975, der bezeichnenderweise in Griechenland aufgetrieben wurde, nun eine Frittenbude für die echte VW-Currywurst einzurichten, mag platt anmuten. Die Wolfsburger jedoch scheinen diesen Humor zu mögen: Bereitwillig haben Azubis und Ruheständler dieses Monstrum in monatelanger Arbeit geschaffen.
Im Inneren des Hauses überzeugt dann, wie souverän Wurm mit der Architektur der 16 Meter hohen Halle umgeht: Fuhren andere Ausstellungen oft aufwendige Raumeinbauten auf, um dem Horror Vacui zu begegnen, vertraut Wurm einzig auf die Kraft von Form und Idee seiner Objekte. Aber auch deren Unform, wie eine aus der Wand wachsende Riesenkartoffel beweist oder der Kaminofen in Gestalt einer voluminösen „Schwedenbombe“, das ist Österreichisch für Negerkuss.
Raumwirksam ist auch Wurms Selbstporträt als multiples Essiggurkerl: Er sei ein Kind der 50er-Jahre, erzählt der Künstler selbst, und damals ist Österreichs Nachwuchs mit Extrawurst-Semmeln und eingelegten Gurken aufgezogen worden. Man ist irgendwann, was man isst – die Gesamtinstallation bestünde aus Wurms Eigengewicht, in Gurken aufgewogen und in Kunstfrüchte überführt. Die 17 Wolfsburger Gurken nun schauen in Richtung Japangarten, dem Vermächtnis Markus Brüderlins. Dort bimmeln derzeit die Furin-Glöckchen, ein Nachlass aus der Ausstellung Christian Boltanskis, im Gedenken verlorener Seelen recht nervtötend vor sich hin – skurriler könnte es eigentlich nicht sein.
Unter den rund 45 Objekten der Ausstellung finden sich Wurm-Klassiker, etwa die Serie körperlicher (De-)Formationen: Da ist das Beinpaar, dessen offenes Bauchrund ein Ausgussbecken umschließt. Der Titel „Mr. Mutt“ ist eine Hommage auf Marcel Duchamp, der sein Ready Made Fountain, das legendäre gekippte Urinal, 1917 unter dem Pseudonym Richard Mutt verfasste. Was ist der Mensch anderes als ein Abfallsack, fragt Wurm – und was ist die mütterliche Liebe anderes als eine überdimensionale Wärmflasche auf Beinen? 2014 erstarrte sie zum großen Bronzeguss.
Zu der visuellen Verunsicherung gesellt sich bei Erwin Wurm die verbale. So erschienen seine 44 Vorschläge zum politisch inkorrekten Handeln im November 2008 als neunseitige Beilage zum Feuilleton der Zeit, waren aber 2002 bereits Anlass zu einer großformatigen Fotoserie handfester Übergriffe, die nun in Wolfsburg zu sehen ist. Was vordergründig als schräger Witz erscheint, offenbart bei genauerer Befragung tiefste Melancholie: Die physischen, psychischen wie sozialen Abweichungen in Wurms Kunst sind immer auch ein absurdes Aufbegehren gegen alles Normative.
Und was hat es nun mit dem Titel der Wolfsburger Ausstellung auf sich, nämlich „Fichte“? Zunächst ist da der zweite Blickfang: ein kleines Waldstück in der Halle. Es sind allerdings Nordmanntannen, die da akkurat kopfüber von der Hallendecke hängen. Es darf also anderes vermutet werden als bloß ein naives Naturzitat.
Hier bezieht sich Wurm im verschränkenden Spiel von Wort und Objekt auf den deutschen Romantiker Johann Gottlieb Fichte (1762–1814): Auch der haderte bereits mit der Dingwelt, sah in der Auseinandersetzung des Menschen mit den Gegenständen immer die Auseinandersetzung mit sich selbst. Analog gedacht, besteht ein Kunstwerk nur in der Erkenntnis des Betrachters, lässt sich die Welt nur vom Standpunkt des Einzelnen erschauen.
Erwin Wurm fordert nun vom Besucher, an zugewiesenen Plätzen über Fichte oder Tanne – wer immer das sein mag – zu sinnieren, legt dem Betrachter das Rätsel der Erkenntnis, besser: der Selbsterkenntnis auf. Aber die Ermächtigung des Subjekts im Geiste Fichtes führt zu nichts – die Existenz ist belanglos, das Scheitern unvermeidlich. Wer sich damit zurechtfindet, resümiert Wurm, hat das große Los gezogen.
bis 13. September, Kunstmuseum Wolfsburg
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