Hermeto Pascoal über Musik: „Spiele so, wie du dich fühlst“
Der brasilianische Künstler Hermeto Pascoal über Zwänge notierter Musik, Stimmen in der Wildnis und seinen Obststand in Rio.
taz: Hermeto Pascoal, Sie machen seit fast 70 Jahren Musik. Wann genau haben Sie angefangen, Ihre Stücke aufzuschreiben?
Hermeto Pascoal: Musiktheorie habe ich erst mit 40 gelernt. Die Zeit davor habe ich meinen Geist weiterentwickelt. Ich folge vollkommen meiner Intuition. Die Theorie hat meiner Art Musik zu machen nur wenig hinzugefügt. Meine Songs öffnen die Köpfe der Menschen, damit sie unkonventionelle Sachen machen.
Also ist es so, dass außer dem, was auf dem Notenblatt steht im Moment des Spielens noch mehr dazukommt?
Wer eine Melodie komponiert, diese arrangiert, legt damit fest, wie sie von Musikern interpretiert werden soll. Ich mache es genau umgekehrt und sage den Musikern: Spiele, wie du dich fühlst, atme, wie du willst, und dann kommt die Note von alleine raus. Ich gestehe den Musikern wirklich künstlerische Freiheit zu.
Meinen Sie, Menschen nehmen notierte Musik ernster als Stücke, die nicht aufgeschrieben sind?
Viele Musiker spielen nur um der Theorie willen, nicht weil sie talentiert sind. Mit der Theorie kann jeder Mensch jedes Instrument lernen. Aber sie ist nur eine Schrift, ein Alphabet. Die 40 Jahre ohne Notenschrift waren sehr lehrreich für mich. Denn ich hatte schon eine Idee von der Theorie. Mit dem Alphabet schreibe ich einen Brief an einen Freund. Ich entferne mich nicht vom Verständnis der Standardnotenschrift, aber in den Arrangements ergänze ich viel mehr Akkorde und rhythmische Kreativität. Das macht sie technisch zwar anspruchsvoller, aber die Musik wird auch reicher.
geboren 1936 im nordöstlichen brasilianischen Bundesstaat Alagoas. Der Multiinstrumentalist und Komponist hat weit über 1.000 Songs geschrieben. Pascoal spielt Klavier, diverse Flöten und Saxofone, Sanfona, Perkussionsinstrumente und verwendet zum Musikmachen auch Alltagsgegenstände. Regionale Musiktraditionen prägen seine Musik ebenso wie die Haltung, mit MusikerInnen über Jahre im Kollektiv zu arbeiten. So fing der Perkussionist Airto Moreira bei Pascoal an und machte ihn später mit Miles Davis bekannt. Pascoal war Kollege und Förderer der Sängerin Flora Purim, seine Ausflüge in Fusion und Jazzrock standen seiner Idee einer „universalen Musik“ nie entgegen. Er lebt mit seiner Frau in Rio.
Mit welchen Musikern sind Sie aufgewachsen?
Ich bin im Alter von 14 aus meiner Heimat weggegangen und bis dahin gab es weder Strom noch Radio. Wir haben nur den Vögeln am Himmel und den Fischen im Meer zugehört. Ich habe wie ein weißer Indianer gelebt. Das alles zu wissen und zu schätzen, war sehr wichtig für mich, das hat sich meiner Art zu denken eingebrannt. Als Jugendlicher hörte ich dann viel Baiào und Forró.
Sie stammen aus dem Nordosten Brasiliens, einer Region, die reich an Musiktraditionen ist.
Ja, weil die Leute dort von überall her eingewandert sind. In Pernambuco triffst du etwa auf Menschen mit deutschen, holländischen oder arabischen Wurzeln.
Waren Maracatu und Coco wichtige musikalische Einflüsse für Sie?
Ja, das sind bis heute prägende Einflüsse. Wenn wir als Gruppe spielen, spielen wir Maracatu. Wir spielen hier alles. Nur nicht diesen Müll, diesen Funk, diesen Rock, diese, diese …
… populäre Axé Music, die in den achtziger Jahren in Salvador da Bahia entstand?
Oh ja, genau, die …
Oder auch Forró Eletrico?
(flucht vor sich hin)
Zurück zu Ihrer musikalischen Sozialisation – wie trat dann der Jazz in Ihr Leben?
Mit 17 habe ich in Recife im Radio Sanfona (ein Akkordeon, vor allem im Forró und Baiào) gespielt. Ein befreundeter Gitarrist hat mich gesehen und eingeladen, mit ihm eine Nacht in einem Club zu spielen. Ich habe ihm gesagt, dass ich nur mit der rechten Hand spiele. Er hat mich ans Klavier gesetzt, obwohl ich das vorher nie gemacht hatte. So habe ich angefangen und weitergemacht. In den Clubs habe ich aber auch sehr viel deutsche Musik für Einwanderer gespielt.
Was genau für Musik?
(Pascoal singt vor)
Sind das Marchinhas, die kleinen Märsche der Karnevalsmusik?
Ja, deutsche Marchinhas. Ich war 18 und die Alten haben mich ausgeschimpft, weil ich sie so modern interpretiert habe.
Die Deutsch-Brasilianer haben ihre Marchinhas also nicht wiedererkannt?
So war es.
Und Jazz ergab sich also praktisch bei Konzerten?
Wenn ich außerhalb Brasiliens Maracatu spielte, stuften Zuschauer meine Musik stets als Jazz ein. Besonders in den Vereinigten Staaten, wo ich oft zu Gast war. Jazz ist die zweite oder dritte Art von Musik, die ich spiele. Ich mache ja Universalmusik, also spiele ich auch alles. An meinem Lieblingsobststand sind nicht nur Bananen, sondern auch Äpfel, Trauben, gerösteter Mais und geröstetes Maniokmehl im Angebot. So ist auch die Musik in meiner Konzeptualisierung. In Brasilien leben Einwanderer aus aller Welt, davon lässt sich Musik keinesfalls trennen. Brasilianische Musik ist universal. Das nehmen Menschen von anderswo auch sofort wahr, wenn sie brasilianische Musik hören.
Sie meinen, die Amerikaner haben Ihre Musik als Jazz kategorisiert, aber in Wahrheit war es Ihr eigener Stil?
Richtig. Als ich 1970 zum ersten Mal in den USA war, stand in der Zeitung: „Wie kann es sein, dass dieser Typ aus dem unterentwickelten Brasilien Musik macht, wie wir sie nicht hinbekommen?“ Meine Antwort: Das kommt daher, weil unsere Musik zeitlos ist, sie funktioniert auf der ganzen Welt.
Heute Abend gastieren Sie in Berlin mit dem Andromeda Mega Express Orchestra, wie kam es zu dieser Kollaboration?
Daniel Glatzel, der Leiter des AMEO, kannte meine Musik. Er wollte einige meiner Stücke für sein Orchester arrangieren und bat mich, ihm die Noten zu schicken. Zum ersten Mal verlasse ich Brasilien, um meine Musik in Arrangements eines anderen Musikers zu spielen. Vorher hatte ich immer eigene Arrangements dabei.
Wie sieht die Zusammenarbeit genau aus?
Wenn ich mit einem sinfonischen Orchester arbeite, nehme ich meinen Sohn Fábio mit, damit er einen Touch anderer Perkussion einbringt. Bei einigen Arrangements werde ich auch allein mit dem Orchester improvisieren.
Welche Instrumente setzen Sie ein?
Perkussionsinstrumente wie das Pandeiro (eine Rahmentrommel), die Viola Caipira – eine Gitarre mit fünf Doppelsaiten –, meine große Flöte, meine Bassflöte, und Alltagsgegenstände, zum Beispiel einen Wasserkessel. Fábio spielt mehrere Instrumente, auch kleine Puppen aus Gummi, die Tiergeräusche machen. Damit erzeugen wir einen ganzen Urwald. Das wird ein großes Ereignis.
Der amtierende brasilianische Kulturminister Juca Ferreira will das Urheberrecht novellieren. Clubs und Radiosender sollen etwa für die gespielte Musik Beiträge zahlen. Was halten Sie davon?
Die klauen immer mehr.
Wer klaut? Die Radios?
Die Radiosender nicht, aber die Manager von Plattenfirmen. Kann ja sein, dass sie im Kulturministerium etwas daran ändern wollen, aber um da reinzukommen, musst du klauen. Mein Musikerkollege Gilberto Gil wollte in seiner Amtszeit als Kulturminister – 2002 bis 2008 – ebenfalls Gesetze ändern, aber die Medienbarone verhinderten das. Wer nicht klaut, muss wieder raus. Deswegen bin ich inzwischen auch Mitglied der französischen Verwertungsgesellschaft Sacem. Die zahlt mir Tantiemen, die mir Zuhause unterschlagen wurden.
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