: Herberger ermittelt
Warum ein Kommissar einen Fall löst und trotzdem sonderlich wird ■ Von Mark Scheibe
Kürzlich machte die legendäre Viertelkneipe „Zum Haltepunkt“ dicht. Doch was passiert nun mit all den merkwürdigen Geschichten, die einst quer über den Tresen geschoben wurden? Sie stauen sich wohl unterirdisch an, und irgendwann platzt der Planet. Das sollte verhindert werden. Deshalb gräbt der Sänger, Musiker und Autor Mark Scheibe diese Geschichten aus, setzt sie neu zusammen und wirft das Ergebnis zu uns aufs Blatt, bitteschön:
Eine kleine Rückblende: Vor einunddreißig Jahren, es war ein lauer Spätsommerabend im September, der damals noch junge Theaterregisseur Horst Maria Möhlenkamp feierte mit einigen äußerst engagierten Schauspielern von allesamt hitzigem Temperament ein wüstes Fest in seiner überaus mondänen Wohnung am Bremer Osterdeich. Die Stimmung kochte, als die dreiundzwanzigjährige Praktikantin Rita mittlerweile nicht mehr ganz bekleidet auf dem Tisch tanzend die Schüssel mit der Bowle umwarf und mit quietschenden Reifen ein blaumetallicfarbener Ford Capri den Schein seiner Lichter durch die Milchglasscheiben der Möhlenkampschen Veranda warf und knapp vor der Hauswand zum Stehen kam. Die Partygesellschaft reagierte verunsichert, und den einen oder anderen suchte die blanke Furcht heim, denn seinerzeit machte die Justiz vom Besitz leichter, halluzinogener Rauschmittel noch reichlich Aufhebens, und die Gesetzgebung ahndete zum Beispiel auch Kuppelei und Ehebruch, beides Delikte, die zum Standardrepertoire der berüchtigten Möhlenkampschen Parties gehörten. Antje hing regungslos in ihrem eigenen Schatten in der Zimmerecke, über ihr eine übergroße Lampe in Form einer weißen Papierkugel. Der Flokati schimmerte orangefarben und das Licht von den Autoscheinwerfern, das die Schwaden blauen Rauches in bizarrster Weise plastisch wirken ließ, lappte wie eine Welle in den Raum hinein. Totenstille. Anja gniggerte.
Ein Mann stieg aus dem Wagen. Es regnete plötzlich in Strömen, der Wind tat sein Übriges, der Motor lief noch, das Licht brannte noch. Keiner traute sich, zu atmen, nur der Mann röchelte draußen. Sein Popeline-Mantel war komplett durchnäßt und in einer seiner Schuhsohlen war ein Loch, das von der Abgebrühtheit des Mannes berichtete. Sein Fuß fror, doch es machte ihm nichts aus, schließlich hatte er einen Auftrag, der ihm Schwachheiten verbat. Ächzend schleppte er sich zum Kofferraum. Der Tankdeckel war abgebrochen, anstelle des Scharnieres klaffte ein scharfkantiges Stück Metall aus dem Blech. Der Mann blieb mit seiner Hand hängen und blutete wie ein Schwein, die Wunde sah scheußlich aus. Er öffnet die Kofferraumklappe und entnimmt dem Wagen einen großen Koffer, mit dem er an die Tür tritt. „He, aufmachen, ich hab' nicht ewig Zeit!“
Möhlenkamp faßte einen Rest Kontrolle, suggerierte sich Vernunft und öffnete. Der Mann schlug Möhlenkamp nieder und stellte seinen Koffer ab, dann ging er wieder und raste von dannen. Möhlenkamp starb jämmerlich und gab noch zu hören, daß er in einem anderen Leben wiederkommen und für Ordnung sorgen werde.
Selbstverständlich war das ein Ereignis von gewisser Schwere; Unverständnis in den Gesichtern der Feiernden, Wut und Enttäuschung über das Vorgefallene. Eines war klar: Die Party war zu Ende. Es dauerte nicht lang, da kam auch schon Kommissar Herberger. Ein alter Haudegen von Format, aber nicht unsubtil. Er schickte alle nach Hause, ließ den toten Möhlenkamp wegbringen und rauchte erst mal eine, er brauchte seine Ruhe, schließlich mußte er den Fall lösen. Der kalte Rauch inspirierte. Auf einem Ecktisch flossen ein paar fast abgebrannte Kerzen ineinander, ihr heißes Wachs tropfte lasziv auf den weißen Flokati. Herberger schritt durchs weite Wohnzimmer und pfiff eine Melodie, er dachte nicht daran, ein Fenster zu öffnen, dem Luftschmutz, so nannte der zwanghafte Herberger die „Atemware“ (auch so ein Ausdruck) in verrauchten Räumen, schrieb er suggestive Kraft zu.
Zeit seines Lebens kämpfte Herberger mit seinem Dogma, ein gesundes Leben führen zu müssen und seiner Genußsucht. Er zückte einen Block und machte sich Notizen, dann stolperte er über die Schüssel mit der Bowle, sie lag, einem umgestürzten Goldfischglas ähnlich, auf der Seite, in ihr tümpelte ein Rest Flüssigkeit. Herberger nahm die Kelle und genehmigte sich erst mal einen Kleinen, in aller investigativer Ruhe. Er setzte sich auf den Koffer und ließ gekonnt seinen Blick schweifen, ob verdächtiger Dinge, nichts fand er jedoch und dachte fortan nach.
Nichts passierte, Stunden vergingen, der Morgen warf die Strahlen seiner Versorgerin mit Anmut durch das Buntglas der mondänen Möhlenkamp-Villa, als sich im Türschloß ein Schlüssel regt, geführt von einer scheuen Person: Rita. Als diese den Herberger überrascht erblickte, Entsetzen schrie aus ihrem kleinen Gesichtchen, rannte sie, so schnell sie konnte, aus Angst. Jedoch knickte sie in ihren Kniekehlen ein und fand sich selbst in der Toreinfahrt liegend, als sich die Sonne verdunkelte. Der Schatten war Herberger selbst, wie er autoritär über der jungen Rita stand, mit seinem Mantel.
Rita stammelt, Herberger packt sie am Arm, schiebt sie vor sich in die Villa zurück, Tür zu. Es ist wieder kalter Rauch und schwadenvolle Luft, das Wohnzimmer sieht aus wie ein Schlachtfeld, Rita beginnt zu erzählen von ihrer Affaire mit Theaterregisseur Möhlenkamp, der ihr versprach, sie mal jemandem vorzustellen und so sie sich gefügig machte für gelegentliche Spielchen. Herberger glaubt ihr kein Wort und hält sie für durchtrieben, er lächelt. „Glauben Sie,“ fragt er die junge Rita, „ich kaufe Ihnen diese Geschichte ab?“
Herberger war schon zu lange Kommissar, um in so einer Situation gefühlsduselig zu werden. Sein Fehler, denn hierdurch hat er Ritas Vertrauen verloren, deren ungeheure Sensibilität in diesem Augenblick von ihr Rückzug in sich selbst, in schweigende Leere, verlangt. Herberger packt sie an beiden Armen und schüttelt sie, hat jedoch keine Chance, Rita ist weg, er läßt sie gehen. Da sieht er eine vergilbte Zeitschrift auf dem Boden liegend, und er liest gespannt einen Artikel, der hier zur Information des Lesers abgedruckt sei: Überschrift: Die Durchdringung des Weltlichen. Ein Aufsatz von Dr. Egbert Fridenhain. Der Text beginnt wie folgt. Der Leser möge dem Autor nachsehen, sich innerhalb der Konventionen unserer Sprache aufzuhalten, wissend, dies sei ein Kompromiß, nur zugunsten der Mittlung, wissend um die Beschränktheit jener Mittel, der wir uns so wir nicht im Besitze sind einer besseren Funktion – bedienen müssen.
Wer also, so ist zu fragen, steht mit seiner Kraft, dem Durst nach Hunger zum Begriffe (!) im Lichte des Wissens wandelnd uns verlornen Seelen der Jetztwelt bei? Wer, so ist zu fragen, wagt den Zweifel zu führen, daß er Licht werde, gleichsam als Kost der Weisen?
Herberger wurde nachdenklich, er las weiter:
Wer, und abermals gefragt, ist Ursprung seines Glanzes genug und nicht nur Glanz allein, den Irrtum aufzuheben, dem Menschen Innenkampf angesichts zu trotzen, aus hoher Warte, aus hohem Gefühl? Und ist nicht der Mensch, in all seiner Not, ein fleischgewordener Moment der allerhöchsten Verdichtung von Schatten? Ist nicht der Glaube, menschliches Tun könne auch lediglich entfernt mit lichtem Treiben in Verbindung gebracht werden, so wie eine jede Religion von sich behauptet, das Dunkel beheben zu können, die größte Lüge aller Zeiten, der gefährlichste Fehler des Menschen? Ist nicht gar der Glaube überhaupt, der schließlich eine Veräußerung, ein Hinwenden zum Außen, ein Abwenden vom Innen verlangt, der teuflischste Akt einer unwissenden Opferung der Menschenseele?
Herberger legte das Heft in den Schoß und starrte zur Zimmerdecke, der Fall war gelöst und mal wieder starb damit ein Teil von ihm. Was sollte er jetzt noch tun, jetzt, wo alles erreicht war. Herberger blieb nichts, er wurde sonderlich und schweigsam.
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