: Hemmnisse
■ Zur organisatorischen Vereinigung autonomer Organisationen und Volksfronten in der Sowjetunion
Einerseits ist die weitere Demokratisierung in der Sowjetunion ohne Fortschritte in den nationalen Fragen undenkbar. Andererseits wirken sich viele nationale Ansprüche als Hemmnisse beim Zusammenschluß all jener Kräft aus, die die Demokratisierung vorantreiben wollen.
Die etwa hundert autonomen Gruppen und Volksfronten aus der ganzen Union, die sich kurz vor dem ZK-Plenum in Leningrad trafen, führten diese Konstellation überdeutlich vor. Die Gründung einer „Interregionalen Vereinigung der demokratischen Organisationen“ (MADO) machte zwar keine Schwierigkeiten. Auch die Forderung nach Aufhebung der in der Verfassung festgeschriebenen Vormachtstellung der KPdSU und nach einem Mehrparteiensystem war einhellig. Schon über den Ort eines gemeinsamen „Informationszentrums“ aber gab es Dissens. Ein festes Zentrum hätte nach hierarchischer Zentralisierung ausgesehen. Ein wanderndes Zentrum wird jedoch kaum funktionsfähig sein.
Zwar haben alle autonomen demokratischen Organisationen die Forderung nach nationaler Autonomie aufgenommen. Wo diese Forderung jedoch konkret wird, tauchen Unvereinbarkeiten auf. Nicht nur die Sowjetunion insgesamt, auch jede Sowjetrepublik für sich ist ein Vielvölkerstaat. Die jeweiligen nationalen Minderheiten haben gegenüber den vorherrschenden Nationen ihrer Republiken ähnliche Besorgnisse wie alle gegenüber den Russen. Ungelöste Grenzprobleme und offene historische Rechnungen gibt es schließlich nicht nur im Falle Nagornyj Karabach. Die moldawische Volksfront etwa beansprucht ukrainisches Territorium, darunter die Stadt Tschernowzy (rumänisch Cernauti, österreichisch Czernowitz).
Die aus der jeweiligen Binnenperspektive wohl begründeten nationalen Ansprüche können sogar zu Koalitionen führen, die der Demokratisierung direkt schaden. Daß zum Beispiel die baltischen „Interfronten“, in denen sich vor allem die dortige russischsprachige Bevölkerung organisiert, mit den Konservativen im Moskauer Parteiapparat koalieren, entspringt keinem primären antidemokratischen Impetus. Aber es wirkt sich als solcher aus.
Die nationale Problematik ist ohne Kompromisse, das heißt ohne die Hinnahme historischen Unrechts friedlich kaum lösbar. Nur wenn Kompromisse gefunden werden, könnte auch die demokratische Bewegung jene Kraft voll entfalten, die in ihr steckt.
Erhard Stölting
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