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Helga Krull vom Großelterndienst„Enkel dich fit!“

Helga Krull vermittelt in Berlin Wunschgroßeltern an Familien, denen solche fehlen. Nicht einfach, aber oft eine Beziehung für's Leben, sagt sie.

Helga Krull vom Berliner Großelterndienst hat selber weder Kinder noch Enkelkinder Foto: Julia Baier
Interview von Thomas Winkler

taz: Frau Krull, wie geht es Ihren Enkelkindern?

Helga Krull: Ich habe keine Enkelkinder, ich habe nicht mal Kinder.

Trotzdem vermitteln Sie Leihomas und Leihopas?

Ich vermittele keine Leihomas oder Leihopas, sondern Wunschgroßeltern. Und um diese Aufgabe auszufüllen, muss man nicht zwingend Enkel haben. Dazu muss man Menschen mögen – sowohl junge als auch alte.

Im Interview: Helga Krull

Der Mensch Helga Krull wird 1959 in Ribnitz-Damgarten geboren und wächst an der Küste auf. Nach einer Ausbildung zur Diplom-Ingenieurin für Schiffstechnik arbeitet sie im Schiffsanlagenbau. 1991 zieht sie nach Berlin um und wechselt zu Siemens, wird aber nach eineinhalb Jahren wieder entlassen. Nach diversen Umschulungen und AB-Maßnahmen ist sie seit 2005 Projektleiterin des Berliner Großelterndienstes.

Der Großelterndienst des Berliner Frauenbundes ist neben den Berliner Familienfreunden, die nur in Lichtenberg und Hohenschönhausen aktiv sind, das einzige seriöse Projekt, das sich auf die Vermittlung von Wunschomas und Wunschopas mit ihren Wunsch­enkeln spezialisiert hat. Neben der Vermittlung werden die Wunschgroßeltern auch betreut, regelmäßiger Austausch, Fortbildungen und geselliges Miteinander organisiert. Daneben gibt es mehrere Einrichtungen, die Patenschaften oder Lernhilfen für Kinder aus Flüchtlingsfamilien oder sozial schwachen Familien organisieren. (taz)

Sie mögen die Formulierung „Leih­oma“ oder „Leihopa“ nicht. Begegnet sie Ihnen in Ihrer Arbeit noch oft?

Mittlerweile sagen das gar nicht mehr so viele. Wir haben unsere Klientel da wohl ganz gut erzogen. Es gibt ja mehrere Großelterndienste in Deutschland, und wir sind uns einig in der Ablehnung: Man leiht sich ein Buch in der Bibliothek oder ein Auto – und dann gibt man das wieder zurück; ob es jetzt Gebrauchsspuren hat, das ist egal. Wir nennen die Menschen, die sich um ein nicht mit ihnen verwandtes Kind kümmern wollen, lieber Wunschgroßmutter oder Wunschgroßvater, um den emotionalen Charakter der Verbindung zu unterstreichen. Dieses Verhältnis, das ist uns wichtig, soll ja nicht nur einen praktischen Wert haben.

Wie viele Wunschomas und Wunsch­opas haben Sie schon vermittelt?

Wir konnten 2019, kurz bevor Corona kam, ja gerade noch unseren 30. Geburtstag feiern. In diesen gut drei Jahrzehnten haben wir, würde ich schätzen, ungefähr 2.000 Großeltern vermittelt. Insgesamt aber gab es über 6.000 erfolgreiche Vermittlungen, weil viele Großeltern das auch mehrmals machen. Aktuell betreue ich über 400 Wunschgroßeltern, die zum Großteil auch vermittelt sind.

Und wie viele könnten Sie vermitteln?

Ach, problemlos das Zehnfache, so viel mehr Nachfragen gibt es bei uns. Es gibt leider zu wenige potenzielle Wunschgroßeltern, die sich bei uns melden.

Wie erklären Sie sich dieses große Missverhältnis?

Es gibt in einer Stadt wie Berlin sehr viele Familien, deren Großeltern weit weg leben, wo die Eltern sich aber wünschen, dass die Kinder Kontakt haben zu älteren Menschen

Die Erklärung ist einfach: Es gibt in einer Stadt wie Berlin sehr viele Familien, deren Großeltern weit weg leben, wo die Eltern sich aber wünschen, dass die Kinder Kontakt haben zu älteren Menschen. Das ist übrigens in anderen Städten nicht anders, auch dort gibt es dieses Missverhältnis. Auf der anderen Seite wollen viele von denen, die aus dem Berufsleben ausscheiden, erst einmal ihre Ruhe haben, nicht schon wieder Verantwortung übernehmen, und schon gar nicht wollen sie sich langfristig binden. Die wollen sich vielleicht nochmal ausprobieren und ganz viel reisen, aber die wenigsten haben gleich zu Anfang auf dem Zettel stehen: Ich suche mir einen Wunsch­enkel. Der Wunsch kommt dann vielleicht später, aber da fühlen sich viele dafür dann schon wieder zu alt, trauen sich das gesundheitlich nicht mehr zu.

Wie kann man dieses Missverhältnis ändern?

Gute Frage. Seit ich beim Großelterndienst bin, seit 15 Jahren also, kämpfe ich dagegen an. Anfangs dachte ich noch: Das kann doch nicht sein, das müssen wir doch drehen – oder die Zahlen zumindest einigermaßen aneinander angleichen können. Aber ich habe das nicht geschafft.

Auch offensivere Werbung bringt nichts?

Nein, so etwas hat nichts gebracht. Das ist wohl einfach so, das muss man akzeptieren. Im Moment habe ich natürlich auch noch zusätzlich das Problem, dass ich gar nicht vermitteln kann. Wegen Corona muss ich die Interessierten vertrösten. Aber wie lange kann man ältere Menschen vertrösten? Weswegen wir auch sagen: Erstvermittlung am besten nur an Menschen, die höchstens 70 Jahre alt sind. Wir vermitteln auch Ältere, aber bei denen ist es dann oft die zweite oder dritte Vermittlung, die haben schon Erfahrung, die wissen, was auf sie zukommt. In den vergangenen Jahren kamen vermehrt zwar auch Jüngere, aber für die ist es schwer, wenn sie noch voll arbeiten, denn es braucht schon Zeit, eine Beziehung zu einer neuen Familie aufzubauen.

Und die, die dann zu Ihnen kommen, was ist deren Motivation?

Der wichtigste und häufigste Grund der Wunschgroßeltern ist es, auch nach dem Ausscheiden aus dem Berufsleben noch einer sinnvollen Tätigkeit nachzugehen. Die meisten kommen denn auch, kurz nachdem sie in Rente gegangen sind, zu uns. Andere haben zwar eigene Enkel, aber die sind weit weg. Oder die Enkel sind schon erwachsen und da gibt es jetzt eine Lücke. Ich habe auch Wunschgroßeltern, die selbst alleinerziehend waren oder von einem alleinerziehenden Elternteil aufgezogen wurden und gerade deshalb eine alleinerziehende Familie unterstützen wollen. Und wieder andere haben keine Enkel und vermissen etwas. Es gibt sehr viele, sehr weit gefächerte Motivationen.

Es gibt also auch Wunschgroßeltern, die selbst keine eigenen Enkel haben, aber das mal ausprobieren wollen?

Ja, die gibt es. Es gibt auch die, die keine eigenen Kinder haben, aber das trotzdem ganz toll machen. Das ist gar nicht so selten. Ich würde schätzen, bei einem Fünftel oder Sechstel meiner Wunschgroßeltern ist das der Fall. Es gibt ja ganz verschiedene Gründe, warum Menschen keine Kinder bekommen. Viele haben einen Draht zu kleinen Kindern, aber eben keine eigenen. Und denken dann, wenn sie im Ruhestand angekommen sind: Jetzt möchte ich meine Kinderliebe dort platzieren, wo sie gebraucht wird. Das sind überraschend oft Männer. Ich kenne jemanden, der war Lesepate, hat aber etwas gesucht, wo er länger dabeibleiben kann. Dem habe ich eine Familie vermittelt, wo das Kind ein Pflegekind ist, also eher komplizierte Verhältnisse, und das läuft sehr gut.

Sonst sind die Männer aber eher in der Unterzahl. Woran liegt das?

Jetzt kommen die Generationen, wo sich mehr Männer an der Erziehungsarbeit beteiligt haben

Männer haben oft noch andere Ehrenämter, in Vereinen zum Beispiel. Frauen sind traditionell eher im sozialen Bereich unterwegs. Männer trauen sich das manchmal auch gar nicht zu, manche haben zudem Angst vor Vorurteilen: Sie fürchten, man könnte sie in die Nähe von Pädophilen rücken. Ich merke aber zusehends: Die jüngeren Alten sind anders drauf als die älteren, da ändert sich etwas. Jetzt kommen die Generationen, wo sich mehr Männer an der Erziehungsarbeit beteiligt haben.

Und was wollen und erwarten die Eltern?

Die häufigste Motivation der Eltern ist: Ich bin selber mit Großeltern aufgewachsen, aber jetzt gibt es keine oder sie sind weit weg oder es gibt keinen Kontakt mehr mit ihnen, das finde ich aber schade und möchte, dass meine Kinder auch diese Erfahrung machen, mit älteren Menschen aufzuwachsen. Dann gibt es aber auch Eltern, die sagen: Mir reichen die Kita- oder Hortzeiten nicht aus, weil ich länger oder am Wochenende arbeite. Ich brauche ergänzende Kinderbetreuung.

Die verwechseln Sie mit einem Babysitter-Dienst?

So könnte man das formulieren, aber das wollen wir natürlich nicht. Das ist zu viel Verpflichtung für unsere Wunschgroßeltern. Wir wollen zwar Verlässlichkeit und eine enge Bindung, aber eher auf emotionaler Ebene, nicht nur auf praktischer.

Das Praktische spielt aber eine Rolle?

Ja, natürlich. Wir sind schon ein Projekt, das sich eher an alleinerziehende Eltern wendet. Das merken wir auch daran, dass sich die Nachfrage von Bezirk zu Bezirk stark unterscheidet. In Prenzlauer Berg, Friedrichshain, Kreuzberg, Mitte, Nord-Neukölln und auch Schöneberg, da ist die Nachfrage nach Wunschgroßeltern größer als in anderen Bezirken – und dort gibt es auch mehr Großeltern, die sich melden. In Frohnau, Tegel oder Zehlendorf scheint der Bedarf dagegen nicht so groß zu sein, aber da melden sich auch wenig Ältere, die gern ein Kind betreuen wollen. Prenzlauer Berg oder Friedrichshain sind eben typische Zuzugsbezirke, während in Frohnau oder Zehlendorf, vermute ich mal, fami­liäre Strukturen noch intakter sind. Da brauchen weniger eine Wunschoma, weil die richtige Oma nur vier Straßen weiter wohnt.

Es sind also vor allem Alleinerziehende, die eine Wunschoma suchen?

Ja, Alleinerziehende und von denen vor allem die eher gut ausgebildeten, oft älteren Mütter, die ihr Kind spät bekommen haben und wo die eigenen Eltern vielleicht auch schon sehr alt sind oder weit weg wohnen, die aber trotzdem Unterstützung brauchen. Mittlerweile kommen auch vermehrt Elternpaare auf uns zu, die keine deutschen Wurzeln haben, aber ganz bewusst wollen, dass ihre Kinder über eine Wunschoma oder einen Wunschopa die deutsche Kultur und Sprache noch zusätzlich zu Kita und Schule kennenlernen. Das sind oft chinesische, generell asiatische Eltern.

Wenn Sie dann vermitteln, wie hoch ist Ihre Erfolgsquote?

Ich sage neuen Wunschgroßeltern immer, sie sollten nicht damit rechnen, dass der erste Vermittlungsversuch gleich klappt. Der dritte klappt dann meistens – jedenfalls im Durchschnitt. Es gibt aber immer auch Fälle, da ist schon der erste Versuch ein Treffer, bei anderen dauert es dann eben ein bisschen länger mit der Vermittlung. Aber das ist ja auch kein Wunder: Es geht um Menschen, die zusammenpassen müssen. Das muss man erst einmal herausfinden.

Und wie geht das?

Die verschiedenen Vorstellungen mit den Gegebenheiten zur Deckung zu bringen ist nicht immer ganz einfach

Die Grundlage sind unsere Fragebögen, die die Eltern ausfüllen müssen und die Wunschgroßeltern dann lesen können, um sich ein Bild zu machen. Es liegt in der Natur der Sache, dass die Antworten auf diesen Fragebögen mitunter eher Wunsch als Wirklichkeit sind – und die Wunschgroßeltern sich im Gegenzug auch andere Vorstellungen gemacht haben. Viele wollen zum Beispiel keine Konkurrenz sein; wenn es echte Großeltern in Berlin gibt, wollen sie nicht das fünfte Rad am Wagen sein. Die verschiedenen Vorstellungen mit den Gegebenheiten zur Deckung zu bringen ist nicht immer ganz einfach.

Und führt sicher auch zu Frust.

Ja, das kann schon auch frustrierend sein, wenn es nicht klappt. Das ist allerdings oft nicht der Kontakt zu den Kindern, sondern der zu den Eltern: wenn es Erwartungen gibt, die nicht erfüllt werden können, wenn einfach die Chemie nicht stimmt. Manche denken auch, sie beschäftigen sich nur mit den Kindern – und haben gar nichts mit den Eltern zu tun. Aber so funktio-niert das nicht. Sie müssen sich mit allen verstehen. Das gehört zu meinen Aufgaben: allen deutlich zu machen, dass es komplizierter ist – und dass nicht jeder dafür geschaffen ist.

Keine leichte Aufgabe.

Ach, man muss oft nur die richtigen Fragen stellen.

Was für Fragen denn?

Fragen nach Gefühlen. Denn die, bei denen es nicht so einfach ist, sind oft die, die alles mit dem Kopf klären wollen. Die frage ich dann: Fühlen Sie sich wohl in der Situation? Wie geht es Ihnen mit der ganzen Familie? Was macht das mit Ihnen? Und dann stellen sie schnell fest, dass es sie überfordert, in eine Situation zu geraten, wo sich Eltern vielleicht miteinander zanken – ob sie nun getrennt sind oder nicht. So etwas erwähnen die Eltern im Fragebogen natürlich eher nicht. Für uns ist aber am allerwichtigsten: Alle Beteiligten sollen ein gutes Gefühl haben. Nur dann ist es die richtige Vermittlung.

Wenn es geklappt hat, wie lange halten diese Beziehungen?

Oft ein Leben lang. Der älteste von uns vermittelte Wunschenkel ist mittlerweile 35 Jahre alt und hat immer noch Kontakt zu seinen Wunschgroßeltern. Wenn es richtig gut funktioniert, dann besteht der Kontakt weiter, auch wenn sich das Verhältnis natürlich verändert: Man besucht sich vielleicht nur noch einmal im Jahr, und ab und zu gibt es mal eine WhatsApp-Nachricht. Eben erst habe ich eine unserer Wunschgroßmütter getroffen, die mir erzählt hat: Ja, zu meinem Wunsch­enkel habe ich zwar nicht mehr so viel Kontakt, aber mit der Mutter bin ich immer noch im regen Austausch. So stellen wir uns das vor: dass eine Wunschfamilie entsteht.

Gibt es auch Kinder, die von sich aus auf Sie zukommen, weil sie sich nach einer Oma oder einem Opa sehnen?

Es gab einmal ein 12-jähriges Mädchen, das kam von sich aus zu uns. Wir konnten es nicht vermitteln, weil wir sagen, die Kinder sollten höchstens zehn Jahre alt sein, damit die Chance auf eine langfristige Beziehung besteht. Aber dieses Mädchen hat das nicht nur über uns, sondern auch über andere Wege versucht, das konnte ich einem Fernsehbeitrag entnehmen. Sie hat dann sogar Aushänge in ihrem Kiez gemacht und hat darüber wohl jemanden gefunden. Das war aber der einzige Fall, den ich kenne. Bei uns melden sich die Eltern, aber die schildern natürlich oft, dass sich die Kinder Großeltern wünschen, weil die anderen Kinder in der Kita auch welche haben.

Was können Wunschgroßeltern diesen Kindern geben, was sie anderswo nicht bekommen können?

Vielen Kindern fehlt Kontinuität und generell Zuwendung. Deshalb ist das Wichtigste, was Ältere Kindern schenken können, Zeit. Es sollte doch so sein: Wenn Wunschgroßeltern und Wunsch­enkel zusammen sind, dann steht das Kind im Mittelpunkt, dann ist alles andere ausgeblendet. Das sollte die Beziehung ausmachen – auch zu den richtigen Großeltern natürlich. Das wollen Eltern ihren Kindern natürlich auch bieten, aber die müssen ja noch Beruf, Haushalt und was sonst noch zu organisieren ist, unter einen Hut kriegen – da bekommen die Kinder manchmal nicht die uneingeschränkte Zuwendung. Eine Wunschoma, die berufstätig ist, hat mir erzählt: Wenn sie extra früher Schluss macht, um ihre Wunsch-enkelin abzuholen, und dann mit ihr am Straßenrand steht und stundenlang die Feuerkäfer beobachtet, dann kommt sie runter. Das entschleunigt mich total, hat sie gesagt, das ist pure Entspannung.

Ist es das vor allem, was die älteren Menschen aus so einer Beziehung mitnehmen?

Nicht nur. Eine andere Wunschoma war anfangs skeptisch und hat zu mir gesagt: Ich weiß gar nicht, ob das was für mich ist, ich habe Rücken und bin nicht mehr so fit. Ich habe ihr dann einen einjährigen Jungen vermittelt – und sie begann mit dem auf dem Boden herumzukriechen und sagte später: Ich habe meinen Rücken gar nicht mehr gespürt. Wir werben nicht umsonst mit dem Satz: Enkel dich fit!

Wie halten Sie sich fit – auch durch Wunschenkel?

Nein, ich habe dafür leider keine Zeit, weil ich bis spät Sprechzeiten habe. Aber ich habe Kontakt zu Kindern. Ich habe meine mittlerweile erwachsene Nichte lange begleitet. Und in meiner alten Heimat an der Küste habe ich in der Nachbarschaft vier kleine Jungs, die kommen, wenn sie sehen, dass mein Auto da steht: Dann muss ich puzzeln. In solchen Momenten merke ich, wie es meinen Wunschgroßeltern geht: In der Zeit mit den Kindern schalten die ab, da sind die voll konzentriert auf das Kind und leben in dessen Welt. Und das ist sehr bereichernd.

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