: Heinz ist nicht allein
Die Journalistin Christiane Florin erzählt die Geschichte eines Mannes, der in einem Caritas-Kinderheim missbraucht wurde, und fordert eine umfassende Aufarbeitung
Von Stefan Hunglinger
Seit mehr als 10 Jahren arbeitet die Journalistin Christiane Florin zu sexualisierter Gewalt in den deutschen Kirchen. Mit „Keinzelfall. Wie Heinz ein katholisches Heim überlebte“ hat sie ein erschütterndes Buch vorgelegt, das sich anlegt mit der „Verantwortungsverdunstungsmaschine“ im Bereich der kirchlichen Kinder- und Jugendeinrichtungen.
Caritas und Diakonie genießen in Deutschland noch immer viel Vertrauen, sie gelten als die „Guten“ im Raum der Kirchen. In den vielen Missbrauchsgutachten und -studien, die seit 2010 erschienen sind und auf Pfarrgemeinden fokussierten, blieben die Sozialwerke meist außen vor. Obwohl sie schon 2011 versprochen hatten, die Gewaltgeschichte ihrer Heime untersuchen zu lassen.
Florin fokussiert in ihrem Buch auf die Lebensgeschichte von Heinz Thelen, dessen Name ein Pseudonym ist. Ende der fünfziger Jahre wurde Thelen im Ruhrgebiet geboren, er und seine neun Geschwister wurden zu Waisen, als der überforderte Vater 1965 Suizid beging und die Mutter ein halbes Jahr darauf starb. Die Autorin schildert diese Biografie detailliert, eindrücklich und sensibel für Klassenunterschiede, der Protagonist ist bei ihr mehr als nur ein Beispiel.
Heinz Thelen landete in einem „Kinderdorf“ der Caritas Duisburg und wurde dort über sieben Jahre hinweg missbraucht – sexuell und auf andere Arten und Weisen. Die Folgen werden ihn ein Leben lang begleiten, ein Einzelfall ist er nicht. „Gewalt, Demütigung und Bedrohungen waren keine Entgleisungen Einzelner in der Heimerziehung“, schreibt Florin, „sie gehörten zum pädagogischen Konzept.“ Florin zitiert Expert:innen, die von den Kinderheimen der sechziger Jahre als „Verwahranstalten“ und „totale Institutionen“ sprechen.
Die Autorin referiert Studien aus verschiedenen Landesteilen und Bistümern, ohne unkritisch deren Deutung zu übernehmen. Sie lässt Thelen ausführlich zu Wort kommen und gräbt in den Archiven, in die man sie lässt. Florin schreibt: „Anfangs wunderte ich mich darüber, dass Tee- und Kristall-Lutsch-Rezepte der Hildegard von Bingen aus dem Jahre 1166 noch zu finden sind, aber Heimakten von 1966 verschwunden sein sollen. Mittlerweile wundere ich mich, wenn ein Heimträger sagt, man habe doch noch Dokumente.“
Christiane Florin: „Keinzelfall. Wie Heinz ein katholisches Heim überlebte“. Patmos Verlag, 160 Seiten, 19 Euro
Ohne kirchliche Akteur:innen aus der Verantwortung zu lassen, verweist Florin auch auf die politische Dimension des Heimmissbrauchs. Caritas und Diakonie seien für den Staat wegen kostengünstiger Pflegesätze beliebte Träger gewesen, Jugendämter hätten oft weggeschaut. „Anders als in Irland hat keine deutsche Bundesregierung die Initiative ergriffen, um den vielfachen Missbrauch von einer unabhängigen Kommission untersuchen zu lassen. Einer der Gründe: Der Staat ist auf die kirchlichen Sozialverbände angewiesen, das Verhältnis bleibt kooperativ. Eine Schuldgeschichte verlangt Konfrontation.“
Heinz Thelen hat seine Vergangenheit konfrontiert, Christiane Florin hat seiner Perspektive mit einem konfrontativen Buch Öffentlichkeit geschenkt. Der Band hätte ein gründlicheres Lektorat verdient gehabt, trotzdem liest er sich gut – und er hat sogar Wirkung entfaltet.
Die Caritas Duisburg hat mittlerweile eine historische sowie eine Interview-Studie an der Uniklinik Ulm beauftragt. Auf www.kinderdorf-maria-in-der-drucht.de können sich dafür Betroffene melden. Christiane Florins Buch habe „zur Weiterentwicklung und Verbesserung sowie zu einer Beschleunigung der laufenden Aufarbeitung beigetragen“, schreibt die Caritas Duisburg auf Anfrage. In den beauftragten Studien geht es um das Heim, das Heinz Thelen überlebte, eine systematische Untersuchung zu den kirchlichen Heimen im ganzen Land steht nach wie vor aus.
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