■ Heimatkunde (4): Die Geschichte der Reformatorpuppe: Das Gespenst von Halle
In einer Februarnacht des Jahres 1546 ging es mit Dr. Martin Luther zu Ende. In seiner Vaterstadt Eisleben hatte er sich beim Stadtschreiber Johann Albrecht einquartiert, nun stand der mit seiner Frau, Luthers Mitarbeitern Justus Jonas und Michael Coelius, Graf und Gräfin Mansfeld, dem Eislebener Apotheker und den zwei Ärzten der Stadt um das Sterbelager des Reformators herum. „Im Leben war ich dir eine Pest, im Tod werde ich dein Tod sein, Papst“ hatte er in der Nacht zuvor mit Kreide an die Wand geschrieben, vier Tage vorher eine letzte Predigt – gegen die Juden – gehalten und vor allem gehofft, bei Bergbaustreitigkeiten zwischen den Mansfelder Grafen vermitteln zu können.
„Es war der 18. Februar, als er dem Tod begegnete, nachts zwischen zwei und drei Uhr. Am 22. des Monats wurde er in der Schloßkirche zu Wittenberg begraben“, schrieb sein Freund und Kampfgefährte Phillip Melanchthon samt dem Wandspruch um ein Lutherbild herum, das ihm Luthers Famulus Reifenstein in ein Buch gezeichnet hatte.
Dahingerafft hatte den 63jährigen ein Herzleiden; angegriffen war er aber schon sehr viel länger. Neben chronischer Verstopfung hatten übel gelagerte Nierensteine ihn so geschunden, daß er, seinem Arzt Ratzeberger zufolge, zeitweise „kein Wasser lassen konnte“ und sich statt dessen der Bauch aufblähte. Mit seiner Brille, dem „schlecht gemachten Stück“, konnte er „keinen Strich sehen“, auf etliche Becher „schlechten Koburger Weins“ führt er häufige Kopfschmerzen mit Ohrensausen und eine unheilbare Ohrenentzündung zurück. Und in seinem Bein stak immer noch ein Röhrchen, mit dem ihm bei einer Schienbeinentzündung Eiter abgezapft worden war.
Bevor Luthers Leichnam aus dem pestverseuchten Eisleben geschafft wurde (im fest verschlossenen Zinksarg, damit er nicht von fanatischen Luther-Hassern geraubt und zerstückelt werden konnte), ließ Luther-Freund Justus Jonas, der auch einen eingehenden Bericht über den Tod verfaßte, den Hallenser Maler Lukas Furtenagel kommen. Der zeichnete den Toten, nahm die Totenmaske und einen Abdruck der Hände ab und goß beides mit Wachs aus. Auf dem Weg nach Wittenberg machte der feierliche Leichenzug am 20. Februar in Halle Station, die Abgüsse wurden in der Marktkirche zurückgelassen.
Dort blieben sie auch, erst 1698 holte man sie wieder hervor. In einem kleinen Gelaß der Marienbibliothek wurde nun eine Art Luther-Weihestätte eingerichtet, aus Werg und Latten eine lebensgroße Puppe zurechtgemacht, mit Barett und Talar bekleidet und an einen Tisch mit aufgeschlagenen Bibelfolianten gesetzt. Für Gesicht und Hände verwandte man – Furtenagels Originalabgüsse. Sie wurden mit Hautfarbe angestrichen, dem Gesicht ein paar Falten gemalt und Glasaugen eingesetzt. Bis zum Umbau der Marienbibliothek im Jahre 1888 blieb die protestantische Reliquie dort, danach wurde die Szene dann in der Marktkirche neu aufgebaut.
Dort stöberte sie Mitte der zwanziger Jahre die völkische Seherin Mathilde Ludendorff auf, die mit ihrem Gatten, dem schwer schilddrüsenkranken Weltkrieg- I-General eine – übrigens bis heute existierende – Sekte gegründet hatte. (Deren Kernthese lautet: Juden, Katholiken, Marxisten und Freimaurer, die „überstaatlichen Mächte“ sind – per Geheimkomplott – gegen die nordische „Lichtrasse“ verschworen.)
Der Luther-Mummenschanz kam ihr gerade recht; hier schienen die finsteren Kräfte, nach Frau Mathilde Ludendorff allen voran der heimtückische Phillip Melanchthon, wirklich das Äußerste an Schändung gewagt zu haben. Mit dem Pamphlet „Das Gespenst von Halle“ wurde der ruchlose Freimaurer-Frevel unverzüglich angeprangert – und die evangelische Kirche damit tatsächlich in Verlegenheit gebracht.
Am 15. Februar 1931 antwortete der spätere Westberliner Bischof Dibelius in der Sonntagsbeilage des Tag auf die Vorwürfe: Davon, daß die von den Ludendorffs „bekämpften Geheimorden ihre Hand im Spiele“ hätten, könne „natürlich nicht die Rede“ sein. Luther habe jedoch „wie eine moderne Wachsfigur aus dem Panoptikum vor der aufgeschlagenen Bibel am Tisch gesessen, für unser heutiges Empfinden eine fürchterliche Geschmacklosigkeit“. Doch „vor 200 Jahren war man offenbar davon überzeugt, damit eine besonders würdige Ehrung des Reformators zu vollziehen“.
In jüngster Zeit habe „man die Totenmaske von dieser Figur wieder entfernt“ und durch einen Abguß ersetzt. „Sie zu vernichten, dazu hat man sich nicht entschließen können. Denn wenn sie auch eine Geschmacksverirrung darstellt – sie bildet immerhin ein kulturgeschichtlich wertvolles Denkmal aus der Zeit nach dem 30jährigen Kriege.“ Von der Figur würde „weiter kein Wesens“ gemacht: „Wer von ihr weiß und sie sehen will, kann sie sehen.“ Das „Kleinod der evangelischen Christenheit“ aber ruhe jetzt in einem „wertvollen gotischen Schrein“.
Da liegt es seit 1926 tatsächlich drin. Die Puppe ist aber – leider leider – inzwischen verschwunden. Christian Meurer
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