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■ Heilende Lebensmittel – nahrhafte Arzneimittel? Der Markt für „Functional Food“ boomt. Bei vielen Produkten kann der Verbraucher schon gar nicht mehr unterscheiden, was er eigentlich vor sich hat Von Wolfgang LöhrGesundheit aus dem Joghurtbecher

Immer mehr Lebensmittel werden mit der besonders guten Wirkung auf die Gesundheit beworben. In den meisten Fällen wurde ein Nutzen nie nachgewiesen. So sollen Joghurtprodukte mit speziellen Bakterienstämmen nicht nur gegen Durchfall wirksam sein, sondern auch die Abwehrkräfte des Körpers gegen Infektionen stimulieren. Verbraucherschützer werfen der Nahrungsmittelindustrie bewußte Täuschung vor.

Die Werbesprüche sind eindeutig: „Die tägliche Dosis Wohlbefinden“, „Energie-Aktivierung“ oder „Fitness for body & brain“. Zunehmend setzt die Nahrungsmittelindustrie auf angeblich gesundheitsfördernde Eigenschaften, um ihre Produkte an den Käufer zu bringen. Beigemischte Vitamine, seltene Aminosäuren, spezielle Fettsäuren oder Spurenelemente sollen den Eindruck vermitteln, ohne diese Gesundheitsnahrung werde der Verbraucher an Mangelerscheinungen erkranken. Fast täglich kommt ein neues Produkt auf den Markt und wird in kürzester Zeit zum Umsatzrenner, obwohl in den meisten Fällen ein gesundheitlicher Nutzen nie nachgewiesen wurde.

Wie sehr die Verbraucher auf derart angereicherte und beworbene Lebensmittel, die als „Functional Food“, „Health Food“ oder auch – in Anlehnung an Pharmazeutika – als „Nutraceutical“ bezeichnet werden, abfahren, zeigt der Erfolg von probiotischen Joghurtprodukten, die, angereichert mit speziellen Bakterienstämmen, das Immunsystem aktivieren, Verdauungsstörungen beseitigen und den Stoffwechsel auf Trab bringen sollen.

Als erster auf dem Markt war der Lebensmittelkonzern Nestlé mit seinem Joghurt LC 1. Obwohl weitaus teurer als die normalen Konkurrenzprodukte lag der „Newcomer“ voll im Trend und wurde ein Verkaufsschlager.

Das Nestlé-Produkt enthält eine spezielle Variante des Joghurt-Bakteriums Lactobacillus acidophilus. Der Mikrobenstamm gehört zu den Milchsäurebakterien, die schon immer zur Joghurtherstellung eingesetzt wurden, wie auch die beiden Stämme Lactobacillus bulgaricus und Streptococcus thermophilus. Durch ihre Stoffwechselaktivitäten wird die Milch in Joghurt umgewandelt, unter anderem wird ein Teil des Milchzuckers zu Milchsäure vergoren. Im Gegensatz zu den normalen Stämmen sollen die patentgeschützten Nestlé-Bakterien im Magen der Konsumenten nicht abgetötet werden. „Unsere wissenschaftlichen Untersuchungen haben gezeigt“, so berichtet Hugo Betz von Nestlé in der Lebensmittelzeitung, „daß der in LC 1 enthaltene Bakterienstamm eine hohe Resistenz gegen Magensäure und Gallensalze besitzt und daher in einer für die Wirkungsausübung hinreichenden Menge lebend und aktiv in den Darm gelangt.“ Dort siedele er sich bervorzugt gegenüber anderen Bakterien an und trage dazu bei, „die natürliche Aktivität körpereigener Zellen zu aktivieren“. Auf den Verpackungen der Joghurtbecher ist dann noch zu lesen: „Täglich verzehrt, trägt Nestlé LC 1 deshalb zu Ihrer Gesundheit bei.“

Nur kurze Zeit später brachten andere große Joghurthersteller ihre eigenen probiotischen Produkte auf den Markt: zum Beispiel die Molkerei Alois Müller mit Pro Cult 3, Südmilch mit Vilfit und Danone mit Actimel. Das Prinzip ist das gleiche, nur, daß jedes Unternehmen seinen eigenen, die Gesundheit und Abwehrkräfte fördernden Bakterienstamm hat. Im vergangen Jahr erreichten die probiotischen Joghurts einen Marktanteil von sieben Prozent. In zwei Jahren, so wird geschätzt, werden es mehr als doppelt soviel sein.

„Natürlich können wir ohne die probiotischen Produkte überleben“, erklärt Michael de Vrese von der Bundesanstalt für Milchforschung in Kiel. Und die Geschichte mit der gesundheitsfördernden Wirkung von Joghurt ist eigentlich ein alter Hut. Wissenschaftliche Untersuchungen hätten den Einfluß auf die Gesundheit schon bei den klassischen Joghurts nachgewiesen, berichtet der Forscher, „durch die Milchbakterien, die für den Menschen nicht schädlich sind, wird das Immunsystem stimuliert, auch bei bestimmten Fällen von Durchfall kann ein normaler Joghurt eine günstige Wirkung haben.“ Die ersten Joghurtfabriken in den zwanziger Jahren in Spanien seien auch mit dem erklärten Ziel errichtet worden, gegen Durchfall bei Kindern Abhilfe zu leisten, sagt de Vrese, „die ersten Joghurts sind ja auch nicht im Lebensmittelladen, sondern in der Apotheke verkauft worden.“ Die Frage, ob die probiotischen Joghurts einen größeren Nutzen haben als die herkömmlichen, kann der Kieler Forscher nicht beanworten. Bisher, so de Vrese, gebe es keinen wissenschaftlichen Nachweis dafür. Zwar sei es richtig, daß die probiotischen Bakterien die Darmpassage besser überlebten, „so in der Regel zehn Prozent“, schätzt de Vrese, aber die Schlußfolgerungen der Joghurthersteller, daß die Produkte deshalb gesünder sind, könne nicht ohne weiteres gezogen werden.

Geschätzt wird, daß etwa 1014 Bakterien im Darm leben. 500 verschiedene Arten sind bekannt, vermutet wird aber, daß es insgesamt 5.000 sind. „Wir wissen ganz einfach nicht“, sagt de Vrese, „wie eine optimale Darmflora aussieht.“ Seiner Ansicht nach müsse jeder Verbraucher selbst entscheiden, ob er für die mögliche gesundheitliche Wirkung bereit sei, einen erhöhten Preis zu zahlen.

„Wenn der Verbraucher glaubt, sich mit Nutraceutical die Gesundheit kaufen zu können, die er durch falsche Ernährung geschwächt hat, so wird dies nicht funktionieren“, sagt Professor Günther Wolframs, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Ernährung.

Kritik an den angeblich gesundheitsfördernden Nahrungsmitteln kommt auch von den Verbraucherschützern. Für die Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherverbände (AgV) ist die Werbung mit „gesundheitlichem Nutzen oft Verbrauchertäuschung“. Die Arbeitsgemeinschaft fordert, daß „Werbeaussagen zu angeblich gesundheitsfördernden oder gar krankheitsheilenden Wirkungen von Lebensmitteln EU-weit“ geregelt werden müsse.

Nach Angaben des Bundesinstituts für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin (BgVV) in Berlin gibt es bisher noch nicht einmal eine Definition für „Functional Food“. Zur Zeit fänden auf europäischer Ebene Gespräche darüber statt, berichet die BgVV-Sprecherin Irene Lukassowitz. Schwierig ist vor allem die Entscheidung, ob ein Produkt noch als Lebensmittel einzustufen ist oder ob es unter das weitaus strengere Arzneimittelrecht fällt. Medikamente dürfen nur zugelassen werden, wenn auch ein Nutzen nachweisbar ist. Und rezeptpflichtige Medikamente dürfen nicht beworben werden.

Bisher jedenfalls kann die Nahrungsmittelindustrie noch fast ungehindert ihre Werbekampagnen laufen lassen. Es ist zwar nach dem deutschen Lebensmittelrecht verboten, bei Nahrungsmitteln mit konkreten Aussagen über heilende Wirkung zu werben. Solange jedoch nur allgemein die Gesundheit angesprochen wird, können die Behörden nicht eingreifen. „Die meisten Produkte befinden sich in einer Grauzone“, sagt die Pressesprecherin beim BgVV, „früher war es noch leichter, Produkte zurückzuhalten, die ernährungsphysiologisch unsinnig sind, nach dem EU-Recht ist dies jedoch nur noch dann möglich, wenn eine gesundheitliche Gefährdung besteht.“ Solange ein Produkt in einem EU-Mitgliedsstaat zugelassen ist, darf hierzulande die Vermarktung nicht behindert werden. Ihrer Ansicht nach müsse eine Regelung getroffen werden, die vorschreibt, daß eine bestimmte Eigenschaft eines Lebensmittels nur dann beworben werden darf, wenn auch ein Wirksamkeitsnachweis dafür vorliegt.

Einen ersten Schritt, die wissenschaftliche Haltbarkeit der Werbeaussagen der Nahrungsmittelindustrie zu untersuchen, wollen die Kieler Milchforscher im nächsten Jahr tun. Sie wollen zum ersten Mal überhaupt mit einer größeren Studie den Einfluß der Joghurtkulturen auf die Gesundheit untersuchen. In der kühleren Jahreszeit, wenn die Grippegefahr am größten ist, soll an Hand einer Gruppe von rund 200 Personen getestet werden, ob Joghurtesser weniger infektionsgefährdet sind.

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