Hegemonie in Lateinamerika: Hamas bestimmt den linken Diskurs
In bedeutenden Kreisen Lateinamerikas hat der Slogan „Free Palestine“ popkulturellen Wert. Kritischen Blicke auf die Hamas sind in der Linken selten.
A uf Facebook kursiert derzeit ein Satz, den in Mexiko viele lustig finden. „Israelar“, also auf Deutsch „israelisieren“, sei das Verb dafür, „jemandem etwas wegzunehmen, dann so zu tun, als sei es deins, und dich zum Opfer zu machen“, heißt es in einem beliebten Post. Die Musiker der spanischen Band Ska P hüpfen indes in T-Shirts, die in den palästinensischen Farben gehalten sind, auf dem chilenischen Maleza-Festival über die Bühne, brüllen ihren beliebten Song „Intifada“ und erfreuen sich eines tobenden Publikums, das eine riesige Flagge ihres imaginisierten Traumlandes in die Höhe hält.
Derweil tritt Roger Waters in Montevideo, Buenos Aires und anderen Latino-Städten auf. Dass der Ex-Pink-Floyd-Musiker behauptet, Israel würde hinsichtlich des Massakers vom 7. Oktober „Geschichten“ erfinden und die Sache aufblasen, stört seine Fans nicht. Im Gegenteil.
Es gibt anscheinend nur ein Opfer
Keine Frage, die Hamas hat den Kampf um die diskursive Hegemonie in bedeutenden gesellschaftlichen Kreisen Lateinamerikas gewonnen. „Free Palestine“, was auch immer damit gemeint sein soll, hat popkulturellen Wert bekommen. Wer sich kritisch, irgendwie links oder einfach hip fühlt, steht im Krieg zwischen der Hamas und Israel auf der Seite derjenigen, die inzwischen als einzige Opfer sichtbar erscheinen: die Palästinenser*innen.
Natürlich fühlen sich nicht wenige der tausende Demonstrant*innen, die etwa in Mexiko-Stadt auf die Straße gingen, durch die Meldungen über die grausigen Folgen der israelischen Angriffe zu ihrem Protest motiviert und fordern schlicht ein Ende des Kriegs. Und sicher empfinden manche auch etwas Empathie für die jüdischen Opfer des Hamas-Massakers. Doch die öffentliche Wahrnehmung wird vom Motto des Demo-Aufrufs geprägt: „From the River to the Sea, Palestine Will Be Free.“
Kritische linke Stimmen sind die Ausnahme
Stimmen, die einen kritischen Blick auf den Hamas-Terror werfen, sind in der Linken eine Ausnahme. Selten findet man Texte wie den von Heriberto M. Galindo Quiñones, der in der linken Tageszeitung La Jornada schreibt, die Unschuldigen und die Schuldigen seien auf beiden Seiten zu finden. Meistens bleibt es liberalen und jüdischen Kommentator*innen überlassen, differenziert auf die Ereignisse zu schauen. So beispielsweise Esther Shabot. Die jüdische Nahost-Expertin beschäftigt sich in einer Kolumne in der konservativen Zeitung Excelsior mit einem für Mexiko naheliegenden Thema: den Parallelen zwischen organisiertem Verbrechen und Hamas.
Hier gibt es einen wesentlichen Unterschied. Während die Kriminellen nur wirtschaftliche Ziele verfolgen, wollen die radikalen Islamisten in einer heiligen Mission den Staat Israel zerstören und alle „Ungläubigen“ vertreiben oder vernichten. Das verleiht dem Massaker vom 7. Oktober den Charakter eines Pogroms. Doch in ihrem Morden verwenden Mafia und die Hamas dieselbe Bildersprache. Sie hinterlassen brutal zugerichtete Leichen und richten wahllos Menschen hin – Bilder, mit denen sie ihre grenzenlose Macht über ihre Feinde zum Ausdruck bringen.
Terror gegen „Untreue“
„In beiden Fällen entspringt die Grausamkeit nicht einer Notwendigkeit, sondern einem Vergnügen als Teil eines sadistischen Impulses, der, einmal entfesselt, vor nichts haltmacht“, schreibt Shabot. Wie die Kriminellen verfügt die Hamas über eine gesellschaftliche Verankerung, die auf Wohltaten für ihre Unterstützer*innen und Terror gegen „Untreue“ basiert. Das sorgt dafür, dass sie von Teilen der Bevölkerung geschützt werden und dass sie sich in Tunneln bewegen oder Einrichtungen wie Krankenhäuser für ihre Zwecke missbrauchen können.
Zu Recht kritisiert die Kolumnistin die ständigen Versuche, den Hamas-Terror mit dem Fehlen eines palästinensischen Staats zu legitimieren. „Sollten wir etwa die perversen Aktionen der Banden des organisierten Verbrechens in Mexiko damit rechtfertigen, dass die Beteiligten an Mängeln leiden, an fehlender Erziehung und Perspektiven, Misshandlung in der Kindheit oder Missbräuchen aller Art?“, will sie wissen. Kaum jemand im Land würde die Frage mit Ja beantworten.
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