: Heftige Schläge für Kulturmöbel
■ Die Tagung „Transit. Orte/NichtOrte“ der Projektgruppe Neue Musik ist bundesweit einzigartig
Was berichten Auswärtige nach ihrer Rückkehr aus Bremen? Geraten sie ins Schwärmen? Fangen sie an zu schimpfen? Oder machen sie beides? Der Kölner Musikwissenschaftler und Journalist Stefan Fricke war am Wochenende bei der Tagung „Transit. Orte/Nicht-Orte“ der „projektgruppe neue musik“ in Bremen. Im Auftrag der taz schildert er seine Eindrücke.
Dass ästhetische Ideen ins politisch Reale umschlagen, ist wahrhaft selten. Für die diesjährige Tagung der „projektgruppe neue musik bremen“ (pgnm) am vergangenen Wochenende trifft dies allerdings zu. Das Thema „Transit. Orte/Nicht-Orte“ stand nicht nur in den vier Konzerten und mehreren Diskussionrunden zur Debatte. Es begleitete die Veranstaltung insgesamt – als bedrohlicher Schatten: Ein wichtiger Ort der neuen Musik soll Nichtort werden. Die Marodität des Bremer Haushalts verlangt Einsparungen. Der Kulturbereich kann davon nicht verschont bleiben. Das ist verständlich. Aber wie selbstverständlich regional und überregional Fruchtragendes zum Tode zu verurteilen, leuchtet ganz und gar nicht ein.
Die seit 1991 alljährlich stattfindenden Tagungen der pgnm gehören zweifellos zum Ertragreichsten und Innovativsten, was die Hansestadt in Sachen zeitgenössischer Musik zu bieten hat. Um nur ein Beispiel zu nennen, welche wichtigen Impulse von der pgnm ausgegangen sind, sei deren erste Veranstaltung genannt. „JETZT das Streichquartett“ – so das Thema von 1991 – war bundesweit das erste Resümee über eine international sich abzeichnende Veränderung im musikalischen Denken. Diese ging vor allem von Luigi Nonos Quartett „Fragmente – Stille. An Diotima“ (1979/80) aus. Seither sind hunderte von neuen Kompositionen für die höchst diskursive Gattung entstanden, und die Produktion reißt nicht ab. Das von Nono beschrittene Neuland wurde eine zentrale ästhetische Herausforderung, vielen Komponisten sogar Vorgabe des eigenen Musikschreibens. Die pgnm hat damals als erster Veranstalter dieses einzigartige, musikästhetische wie sozialgeschichtlich gleichermaßen wichtige Phänomen aufgegriffen. Viele grundsätzliche Überlegungen sind, ehe sie dann Eingang in die Musikforschung fanden, erstmals in Bremen formuliert worden – dann der übrigens noch heute ehrenamtlich tätigen Mitglieder der pgnm.
Diesem knappen Beispiel aus der nunmehr neunjährigen Geschichte der Projektgruppe ließen sich etliche weitere anschließen. Wer die Bedeutung solcher Aktivitäten nicht erkennt, das tatsächlich Investigative für heute und morgen nicht erblickt, ist nicht nur blind für eine zukunftsweisende Kultur, er ist auch in finanzökonomischen Dingen mit trefflicher Tumbheit ausgestattet. Die Tagung hat in den letzten Jahren ein für die neue Musikszene großes Publikum angezogen. Was hier jeweils binnen dreier Tage zu erleben war, ging schon oft weit über den Kanon eines Hochschulsemesters hinaus. Wüsste der Senat solches zu nutzen, würde er den kärglichen Tagungszuschuss von 40.000 Mark nicht einsparen, sondern verdoppeln.
Als einzigartige Stätte der Interdisziplinarität löst die pgnm diese vielfach beschworene Vokabel seit ihrem Bestehen ein und ist damit innerhalb der bundesdeutschen Musikkongresslandschaft ein echtes Novum.
Wie zentral das vernetzte Arbeiten der geistes-, natur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen ist, um das Phänomen Musik überhaupt begreifen zu können, zeigte sich auch bei der diesjährigen Tagung. Der Kulturwissenschaftler Hans Georg Nicklaus von der Berliner Humboldt-Universität zeigte in seinem Eröffnungsvortrag anhand von Beispielen aus verschiedenen Disziplinen, wie sich Ortsauffassungen verändert haben und zugleich, welche Konstanten existieren. Mit der Dichotomie von „Irgendwo“ und „Überall“ hatte er ein plausibles Begriffsmodell gewählt, mit dem sich die dialektischen Phänomene etwa des Reisens und des digitalen Datentransfers gut demonstrieren lassen. Seine allgemeinen Überlegungen flankierte die Berliner Musikwissenschaftlerin Helga de la Motte-Haber mit konkreten Positionen aus der jüngeren und jüngsten Musikgeschichte. Der Raum und dessen Auslotung hat seit den 50-er Jahren für die Musik zunehmend an Bedeutung gewonnen. So wird das Publikum immer häufiger in die Mitte der Aufführenden gesetzt. Zudem ist der Klang beweglich geworden, Musiker gehen während ihres Spiels im Raum umher.
Diesen anthropologischen und klangraumspezifischen Darstellungen der beiden Wissenschaftler hatte die pgnm in ihren Konzertzusammenstellungen noch weitere Aspekte von Ort- und Nicht-Ort-Erfahrungen zur Seite gestellt – etwa die Einsamkeit des Menschen (Musikers). Gleich mehrfach wurde dieses Sujet in den Konzerten aufgegriffen. Etwa in Uwe Raschs „Kafka-Trilogie I“ (1991), in Jürg Wyttenbachs „Claustrophonie“ (1979) oder Nonos „A floresta é jovem e cheja de vida“.
Das 1965/66 entstandene, nur selten live zu hörende Stück, das Nono der Vietnamesischen Befreiungsfront gewidmet hat, war zweifellos einer der Höhepunkte des Wochenendes. Als Interpreten hatte die pgnm das exzellente Klangforum Wien mit Jürg Wyttenbach (Basel) als Dirigenten gewinnen können. Den psychologischen Innenraum öffnen und seiner Kraft, Wut, sprachlose Haptik lauthals zu intonieren, zeigt Christoph Ogiermann (Bremen) in seinem Klavierstück „Ruach 2“ (1996/97). Als Schlagzeuger muss der Interpret (eindrucksvoll: die Bremerin Lilian von Haußen) das Kulturmöbel leibhaftig in rasantem Tempo mit den Händen malträtieren, als solle es den Weg freimachen für ein neues, noch nicht zu sagendes.
Ganz anders wiederum das Streichquartett des Wiener Komponisten Georg Friedrich Haas, in dem mikrotonale Harmonieräume durchschritten werden, deren genaue Verortung erst zum Schluss möglich ist – sozusagen am Ende der Reise. Im Übrigen bewies die pgnm sowohl in der Werkprogrammierung als auch in der Interpretenwahl ein gutes Gespür und brillierte dieses Jahr sogar als Nachwuchswegweise: Den 24-jährigen Pianisten Michael Wendenberg einzuladen, war mehr als nur ein Erfolg. Sein Solokonzert mit Stücken von Ustwolskaja, Rzewski, Nono, Klaus Huber und von dem Saarbrücker Tobias Schwenke überzeugte grundweg und zur frenetischen Freude des Publikums.
Die pgnm wird einst für sich verbuchen können, einen Ausnahme-Pianisten vielleicht nicht entdeckt, aber nachhaltig gefördert zu haben. Die genannten Komponisten nahmen übrigens an der Tagung teil, diskutierten – verschieden aufschlussreich – mit den Wissenschaftlern sowie mit dem Publikum ihre (Nicht-) Ortskonzepte.
Es bleibt emphatisch zu wiederholen, dass der pgnm-Ort weiterhin ein Ort bleiben muss, allein schon wegen seiner großartigen Effizienz. Diese sollte mal ins Tagespolitische umschlagen.
Stefan Fricke
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