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Hausbesuch Als Kinder gingen sie nicht zur Schule, weil sie selbst entscheiden sollten, wann sie was lernen. Kann aus denen denn was werden? Bei Juri, Semjon, Immanuel, Andreas und Helge in der Freilerner-WG„Der Boss sind wir alle“

Anja Maier (Text)und Joanna Kosowska (Fotos)

Wilhelmsgrille in Brandenburg, auf halber Strecke zwischen Hamburg und Berlin. Zu Hause bei Juri, 23, Semjon, 24, und Immanuel Wolf, 27, Andreas Richter, 24, und Helge Weidner, 24. Die drei Wolf-Brüder, Andreas und Helge kennen sich seit ihrer Kindheit. Ihre Eltern gehören zur Freilerner-Szene, das sind Menschen, die ihre Kinder statt in der Schule zu Hause unterrichten. Die Kinder bestimmen selbst, wann sie was lernen. In Deutschland leben etwa tausend Freilerner. Da das Gesetz die Schulpflicht vorsieht, sind die meisten Familien konflikterprobt in Behördendingen. Und sie sind gut vernetzt. So gut, dass manche Kinder als Erwachsene eine WG gründen. Die in dem Dörfchen Wilhelmsgrille bei Kyritz heißt „Die Bude“. „Das hier ist der Arsch der Welt“, sagt Semjon, „und wir sind mittendrin.“

Draußen:Ein Einsiedlerhaus aus den 50er Jahren, gelegen am Dorfausgang. In den massiven Holzbriefkästen sind die Namen der Bewohner eingebrannt, an der grauen Fassade hängt eine zerfetzte „Atomkraft nein danke“-Fahne. Der Weg ins Haus führt über den Hof: links der Garten, Obstbäume und Brennholz, rechts Schuppen, Tische, Gartenstühle, eine gemauerte Feuerstelle. Eine Standbox hämmert ununterbrochen Musik in die frische, klare Luft.

Drin:Durch den Windfang geht es ins Haus. Auffallend: die Ordnung überall (“Unsere Eltern sind ziemlich chaotisch, für die sind wir Spießer“, sagt Semjon). In der Küche steht ein sechsflammiger Herd, ein Bollerofen, Tisch, Sofa, Stühle, selbst gezimmerte Hängeschränke mit Lamellentüren. Im Bad im Kosmetikregal Literatur über Reisen, Massage, Holzbacköfen. Helge und Semjon teilen sich ein Zimmer, Juri und Andreas wohnen allein. Wenn sie den Dachboden ausgebaut haben, bekommt jeder seinen eigenen Raum. Immanuel lebt in einem Zirkuswagen im Garten. In diesem Sommer haben sie alle zusammen das Hausdach gedeckt. Sie besitzen als Gemeinschaft einen Bus, ansonsten wird Rad oder Bus gefahren. Helge: „Der Bus fährt fast jeden Tag.“

Wer macht was?Semjon absolviert eine Tischlerlehre in Potsdam. Er fährt BMX-Rad (“richtig geil“). In der Bude kümmert er sich um Projektplanungen und holt Angebote ein. „Der Boss sind wir alle.“ Juri studiert in Potsdam Interface-(also Schnittstellen-)Design und programmiert Datenbanken für Museen. In der Bude packt er bei den meisten Sachen mit an, „aber ich bin kein Handwerker“. Helge war mit seiner Freundin ein halbes Jahr in Australien, jetzt arbeitet er in der Gegend als Handwerker. Gerade grübelt er über Anschaffung und Bau einer Photovoltaikanlage für die Bude nach. Immanuel organisiert das jährliche Schulfrei-Festival und produziert die unregelmäßig erscheinende Freilerner-Zeitschrift. Er kümmert sich um den Garten. Andreas ist Fachmann für Innenausbau, „neuerdings viel mit Lehmputz, das ist nicht mehr der Freak-Bau­stoff“. Im Schuppen hat er seine Drechslerwerkstatt eingerichtet.

Wer denkt was?„Mein Projekt ist auf jeden Fall die Bude“, sagt Andreas. Aktuell beschäftigt ihn die Frage nach seinem Umgang mit der Umwelt. „Wie will ich leben? Was bliebe eigentlich übrig, wenn man alles Sinnlose wegließe?“ Helge macht sich Gedanken „um die Steuererklärung“ und darüber, was sich vielleicht verändern könnte, wenn demnächst seine Freundin hier einzieht. Immanuel fragt sich, ob er sich vor Einbruch des Winters einen neuen Bauwagen kaufen soll. Juri denkt über eine neue Tausch-Internetplattform nach und über die Frage, „ob wir hier in der Bude was für Flüchtlinge machen können“. Auch Semjon fragt sich, „wie wir in diesem Land mit Flüchtlingen umgehen – und wie das mit dem zusammenpasst, was wir hier machen“.

Frei lernen:Auf ihre Zeit als Freilerner blicken sie mit spürbarem Stolz zurück. Am wertvollsten, sagt Semjon, „ist unsere Freiheit. Dass wir wissen, wofür wir stehen. Und dass wir Sachen, die wir nicht wissen, eben fragen.“ Für Juri ist es das „große Vertrauen in das, was wir tun. Wir machen uns einfach keinen Druck – so ein Haus kann man ja auch wieder verkaufen.“

Kennenlernen:Alle kennen sich seit ihrer Kindheit. Juri und Semjon sind vor zehn Jahren mit ihrem Vater in die Gegend gekommen – nach jahrelangen juristischen Auseinandersetzungen mussten die Jungs schließlich doch eine öffentliche Schule besuchen. Dort freundeten sie sich mit Helge und Andreas an. Immer war da „eine beständige Bindung“, sagt Semjon. Vor zwei Jahren, mit Anfang zwanzig, haben sie sich dann zusammen „Die Bude“ gekauft. Keiner der Jungs raucht oder kifft. Juri sagt: „Wir gehen mehr ab als die Leute mit Drogen.“ Semjon: „Na ja, wir trinken gerne Bier.“

Der Alltag:Alle fünf betonen, miteinander keinen Alltag zu haben. Juri: „Es ergibt sich viel“, etwa dass plötzlich Besuch vor der Tür steht oder dass man sich abends ans Feuer setzt. „Aber“, sagt Andreas, „wenn einer kommt, müssen nicht alle kommen.“ Und Semjon: „Alltag würde heißen, dass es sich wiederholt. Das wäre nichts, was uns glücklich macht.“

Wie finden Sie Merkel?Juri: „Sie ist nicht in meiner Partei. Aber sie ist keine Hassperson für mich.“ Immanuel: „Ich weiß oft nicht, was sie wirklich meint.“ Helge: „Sie setzt sich zu wenig für Umweltschutz und Nachhaltigkeit ein.“ Andreas: „Nicht so gut.“ Semjon: „Sie führt ein krasses Leben. Respekt!“

Wann sind Sie glücklich?Juri: „Wenn niemand Erwartungen an mich hat. Das ist zum Glück ziemlich häufig so.“ Semjon: „Wenn ich leicht überfordert bin, zum Beispiel, wenn ich den Pizzastand auf der Fusion übernehme.“ Immanuel: „Mit meiner Freundin auf der Wiese liegen und sich gegenseitig Geschichten vorlesen.“ Helge: „Musik machen, ich habe gerade zum ersten Mal in meinem Leben eigene Songs geschrieben – die übrigens nicht so gut sind.“ Andreas: „Mich macht glücklich, was ich mache.“

Sie möchten auch besucht werden? Mailen Sie an hausbesuch@taz.de

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