Haßloch für die Konsumforschung: Voll der Durchschnitt
In Haßloch testeten Konzerne jahrelang ihre Produkte. Jetzt ersetzt künstliche Intelligenz das „Durchschnitts-Dorf“. Kratzt das an der Identität?
Haßloch gilt als Mini-Deutschland. Die Bevölkerungsstruktur der rund 20.000 Einwohner*innen kommt dem deutschen Durchschnitt sehr nahe. Das Mengenverhältnis von Kindern, Rentner*innen und Familien, einkommensschwachen und -starken Haushalten sowie die örtliche Handelslandschaft ist repräsentativ für das ganze Land. Eine Art Playmobil-Deutschland.
„Haßloch …“, sagt Julien Niemann und lacht, „schon ein krasser Name, ’ne?“ Seine Schwester Mara und er (beide Namen geändert) nennen es liebevoll „hatehole“. Durchschnittshölle Deutschland. Julien ist knapp 1,85 groß, dunkelhäutig, hat braune Augen und Haare. Maras geflochtenes Haar reicht ihr bis zur Hüfte. Die Geschwister sind in Haßloch aufgewachsen.
Der Ortskern des Großdorfs besteht aus Dorfkirche, Post und Rathaus. Jeden vierten Mittwoch im Monat werden die Senior*innen zu „gemütlichem Beisammensein bei Kaffee und Kuchen“ in die Bürgerstiftung geladen. Bis auf die Rentner*innen sind die Straßen jedoch leer gefegt. Der Eindruck, dass in Haßloch „immer was los“ sei, wie es auf der Gemeindeseite heißt, entsteht an einem Dienstagmittag nicht.
Das Dorf erscheint verlassen
Der Uhrmacher: geschlossen. Die Metzgerei: geschlossen. Das Burger-Restaurant: geschlossen. Auf Anfrage der taz beim Bürgerbüro heißt es wiederum Freitagmittag um 12 Uhr, man solle es doch Montag wieder probieren. „Freitags arbeiten wir nicht so lang.“ Hier ist man der Viertagewoche wohl schon näher als in der Hauptstadt.
Vorreiter war Haßloch schon immer. Von 1986 bis 2021 diente das Dorf als Testmarkt für das Nürnberger Marktforschungsinstitut Growth from Knowledge (GfK), ehemals Gesellschaft für Konsumforschung. Nach dem amerikanischen Vorbild der „Magic Towns“, wie die Durchschnittsorte heißen, wurden hier neue Produkte von Marken wie Coca-Cola, Procter & Gamble oder Wrigley getestet. Kauften die Haßlocher*innen ein Produkt, kam es auch im Rest des Landes in die Supermarktregale. Untersucht wurde dabei auch mithilfe von Fernsehboxen die Wirksamkeit der Fernsehwerbung.
Mit den Tests sollte der Erfolg eines Produkts erforscht werden, bevor teure Werbung geschaltet und die Produkte massenhaft hergestellt wurden. Berichte im Internet besagen, dass die Erfahrungen, die die GfK hier machte, zu 90 Prozent mit den späteren Marktdaten übereinstimmten. Überprüft werden kann das nicht.
Auf Anfrage der taz bei der GfK heißt es, man beantworte keine Anfragen zum bereits abgeschlossenen Testmarkt in Haßloch.
Von den rund 10.000 Haßlocher Haushalten nahmen an den Forschungen rund 3.000 freiwillig teil. Auch Juliens und Maras Vater. Dass ein Produkt ein Testprodukt war, erfuhren die Landesvorverkoster*innen erst dann, wenn es wieder aus den Regalen verschwand oder sie von Bekannten aus anderen Städten darauf hingewiesen wurden.
Datenvergabe gegen Prämienpunkte
Belohnt wurden sie mit kostenlosen Programmzeitschriften, einem Zuschuss von 3,85 Euro zu den Kabelgebühren und Prämienpunkten im Supermarkt. Im Gegenzug mussten sie nur ihre Daten preisgeben, die Gold wert waren. „Ständig haben die mir Briefe geschickt und ich musste alles mögliche ausfüllen: Habe ich einen Kühlschrank? Habe ich keinen? Was weiß ich, was die alles wissen wollten“, erzählt eine grauhaarige Frau, die mit ihrem Mann die Straße am Rathaus entlangspaziert.
So ging das 35 Jahre lang. Und dann das plötzliche Ende im Dezember 2021. Man setze jetzt auf digitale Lösungen, hieß es aus Nürnberg. Auch in der „Innovationsnation“ Deutschland sollten schließlich die alten Plastikkarten und Fernsehboxen durch dezentrales Echtzeittracking per künstlicher Intelligenz ersetzt werde.
Von einem Tag auf den anderen verpufft
Die GfK nutze nun eine KI-basierte Plattform, die Kund*innen in Echtzeit Fragen wie „Wer hat gekauft und warum?“ und „Was muss ich als nächstes tun, um mein Geschäft nachhaltig wachsen zu sehen“ beantworte, sagt Sprecherin Eva Böhm. Der Grund: Kund*innen benötigten „gerade in der heutigen schnelllebigen und volatilen Welt“ möglichst in Echtzeit relevante, verlässliche Daten und konkrete Handlungsempfehlungen, um schnell auf sich verändernde Märkte und Konsument*innenbedürfnisse reagieren zu können, sagt sie.
Das letzte Überbleibsel der Nürnberger in Haßloch: ein harmlos erscheinendes oranges GfK-Schild neben der Spielothek Doc Holiday. Alles andere: von einem Tag auf den anderen verpufft. Als wären die Konsumforscher nie da gewesen.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Was macht das mit einem Ort, wenn eine über 35 Jahre sorgsam konstruierte Scheinwelt von einem Tag auf den anderen zerplatzt? Wenn man plötzlich nicht mehr relevant ist, nicht mehr zeitgemäß, nicht mal mehr Durchschnitt! Identitätskrise? Bedeutungsverlust? Lähmung?
„Für Haßloch war das kein großes Thema“, sagt Bürgermeister Tobias Meyer (CDU). Die Einschätzung des Bürgermeisters teilt die Edeka-Kassiererin: „Das war einfach so. War schon immer so. Man hat da nicht so ein Ding draus gemacht.“ Das Versuchsende sei alles andere als ein Schlag für das Dorf gewesen, erzählt auch eine Frau in grüner Daunenjacke vor dem Drogeriemarkt: „Das war nervig, die Karte immer mitzuschleppen, der Receiver ist ständig kaputtgegangen.“ Dann war’s vorbei, aber „da wurde kein großes Tamtam draus gemacht“.
Desinteresse an den Marktforschungstests
Während die Tests liefen, hätten sich die Leute dafür interessiert, erzählt ein älterer Herr in orangem Pullover. „Aber jetzt, wo die vorbei sind, ist es allen egal.“ Das können die stark geschminkten Teenagerinnen im Edeka nur bestätigen.
Identitätskrise? Fehlanzeige. Mit dem Durchschnittsdasein hat man sich wohl nie identifiziert. Die anderen hätten immer mehr daraus gemacht als die Haßlocher*innen, erzählt Mara. „Ich wurde immer wieder darauf angesprochen, aber für mich war das nicht so besonders, weil es mir einfach egal war.“ Dabei könnte man doch stolz sein auf die Rolle der Landesvorkoster*innen!
Gefreut hat man sich hier wohl mehr über die Vorteile, die damit einhergingen. Sie scheinem genügt zu haben, damit sich die Bürger*innen 35 Jahre in den Kühlschrank leuchten ließen. Mara sagt zwar, sie wisse von ihrem Vater, dass damals viele Einwohner*innen „sehr krass“ auch gegen den Datenverkauf gewesen seien, die Frau in der grünen Jacke hingegen findet, man solle sich nicht so haben: „Das ist ja nicht wie heute mit dem Datenschutz und dem ganzen Scheiß.“ Auch der Mann im orangen Pullover sagt, er habe nichts zu verheimlichen. Es ginge ja nicht um Daten, lediglich um Statistiken.
Es gibt nicht mehr den Durchschnittsdeutschen
Das Maß an Gleichgültigkeit spricht nicht gerade für die Durchschnittsdeutschen, ist allerdings wohl wiederum repräsentativ. Denn nicht nur die Haßlocher*innen verschenken bereitwillig ihre Daten, sondern ganz Deutschland. Nur deshalb kann die GfK nun überhaupt Plastikkarte und Fernsehbox gegen eine KI-basierte Plattform ersetzen, die den Kund*innen Konsument*innendaten in Echtzeit liefert. Die Idee eines Durchschnittsdeutschen ist damit wohl überkommen. Haßloch, es ist aus.
Dass Haßloch nicht mehr am Zahn der Zeit ist, findet nicht nur die GfK. „Hier sind nur Rentner“, sagt Julien. Und tatsächlich: Mit rund 24 Prozent über 65-Jährigen wohnen in Haßloch mittlerweile überdurchschnittlich viele Rentner*innen. Es gebe drei Altersheime, die alle voll seien. Die Alten fänden alles Neue schlimm. „Seit neuestem gibt es hier E-Scooter. Ich finde das super, aber die Rentner sind natürlich dagegen.“
Viele Junge würden wegziehen, erzählt Julien. Hier sei nicht viel los, die Job- und Verdienstchancen seien unattraktiv. Die händeringende Suche nach Fachkräften begegnet einem in jedem Schaufenster, in das man blickt: Die Spielothek sucht eine Reinigungskraft, der Bäcker Verkäufer*innen, der Supermarkt neue Mitarbeiter*innen. Durchschnittsdeutschland eben.
Obwohl hier nicht viel los sei, gefalle es ihm, sagt Julien. Der Ort sei „nicht zu groß, nicht zu klein“, optimal, um Kinder großzuziehen, und es gebe eine gute Anbindung nach Mannheim. „Ich bin stolzer Haßlocher.“
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