Hartz IV und der Untergang Roms: Die Wonnen der Dekadenz
Der Vizekanzler und FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle benutzt einen antiliberalen Kampfbegriff, den sich der Chef einer liberalen Partei niemals zu eigen machen darf.
Dass die Sozialgeschichte der stadtrömischen Unterschichten zu einem dominierenden Thema der deutschen Innenpolitik werden würde, hätte kaum ein Althistoriker zu träumen gewagt. In Fachkreisen handelt es sich um eines der großen Forschungsthemen, mit dem einst Generationen von Schülern und Studenten traktiert wurden. Zuletzt ist es ein wenig aus der Mode geraten. Die wesentlichen Fragen schienen geklärt oder bis zum Überdruss diskutiert. Das eint die Kontroverse mit den modernen Streitigkeiten über Hartz IV, die erst durch die polemische Intervention des FDP-Vorsitzenden eine Wiederbelebung erfuhren.
Mit der althistorischen Debatte ist Guido Westerwelle nicht sonderlich gut vertraut. Das beginnt mit der Verortung des Phänomens in der Spätantike. Bereits im zweiten vorchristlichen Jahrhundert erschien das Aufkommen einer neuen Unterschicht als drängendes Problem auf der Agenda. In den innenpolitischen Wirren, die ein Jahrhundert später zum Untergang der Republik führten, spielte die Frage eine wichtige Rolle.
Die ältere Forschung brachte die Erosion der italischen (sic!) Mittelschicht vor allem mit den zahlreichen Kriegen der republikanischen Zeit in Verbindung. Während der langen Feldzüge hätten die Bauern ihre Äcker nicht mehr bestellen können. Insgesamt plausibler ist die These von einem antiken Globalisierungsprozess.
Das Problem: Im 3. und 2. Jahrhundert vor Christus führte die römische Republik fast ständig Krieg, vor allem mit Karthago und im griechischen Osten. Die Bauern ließen die Felder brachliegen und verloren ihre Existenzgrundlage. Sklaven aus den Kolonien machten heimischen Arbeitskräften Konkurrenz, hinzu kam der Import von Billigprodukten.
Die Lösung: Im Jahr 123 v. Chr. veranlasste der Volkstribun Gaius Sempronius Gracchus die Abgabe von verbilligtem Getreide an Bedürftige. Das System wurde in der Folgezeit immer weiter ausgebaut, am Ende wurden bis zu 320.000 Menschen kostenlos versorgt.
Die Folgen: Die Loyalität der städtischen Unterschichten wurde zu einem gewichtigen Machtfaktor in den innenpolitischen Kämpfen, die das Ende der Republik herbeiführten. Das Imperium selbst hatte nach der Errichtung des Prinzipats allerdings noch ein halbes Jahrtausend Bestand.
Die Expansion des Imperiums führte zu einem Zufluss preiswerter Arbeitskräfte in Form von Sklaven nach Italien selbst, aber auch zu einer Billigkonkurrenz aus anderen Teilen des Imperiums. Es gab keine Nachfrage mehr nach gering qualifizierten Tätigkeiten, die Bewohner der wohlhabenden Kernzone des globalisierten Wirtschaftsraums noch hätten ausüben können. Die stadtrömische plebs war fortan auf öffentliche Unterstützung angewiesen, die sie mit der Lex frumentaria des Jahres 123 v. Chr. auch erhielt. Was zunächst als Abgabe verbilligten Getreides an einen eng begrenzten Empfängerkreis konzipiert war, weitete sich im Lauf der Jahrzehnte immer mehr aus. Allzu verlockend war in den innenpolitischen Kämpfen des ersten Jahrhunderts vor Christus für die konkurrierenden Lager die Aussicht, durch großzügige Handhabung dieser Sozialleistung die stadtrömischen Unterschichten an sich zu binden.
Um die Mitte des Jahrhunderts bezogen rund 320.000 Menschen das kostenlose Getreide, mithin rund jeder zweite römische Vollbürger. Nach erfolgreicher Machtübernahme reduzierte Cäsar den Empfängerkreis mit einer Art antikem Hartz-IV-Gesetz auf rund 150.000 Personen, unter seinem Nachfolger Augustus stieg die Zahl wieder auf 200.000 an. Bezahlt wurde die Leistung nicht aus der Staatskasse, sondern aus dem Privatvermögen des Princeps, was den Charakter einer persönlichen Loyalitätsversicherung unterstreicht.
Als zweites Hilfsmittel, das der Ruhigstellung der unterbeschäftigten Massen diente, gelten die öffentlichen Spiele - ob es nun die brutalen Tierhetzen waren, für die später das Colosseum erbaut wurde, die Wagenrennen im Circus Maximus oder die nicht ganz so populären Festspiele im Theater. Insgesamt ergab sich ein Zusammenspiel von Sozialleistungen und Unterhaltungsangebot, das tatsächlich starke Assoziationen mit der heutigen Unterschichtsdebatte über Hartz IV und Fernsehkonsum weckt.
Westerwelles Suggestion, dieser Problemkomplex habe den Untergang Roms herbeigeführt, ist allerdings schon aus zeitlichen Gründen falsch. Schließlich hat das Imperium die Einführung der öffentlichen Getreideversorgung um mehr als ein halbes Jahrtausend überlebt. Im Übrigen zeigen gerade die Parallelen zwischen Antike und Jetztzeit, dass sich manche Phänomene der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte kurzfristig gar nicht steuern lassen, jedenfalls nicht durch einen Gastkommentar in der Welt.
Das Gleiche gilt allerdings auch für den Reichtum der römischen Oberschicht, an dem sich die klassischen Dekadenztheorien viel eher stießen als an der Alimentierung des antiken Prekariats. Es war vorhersehbar, dass Westerwelles Gegner hier anknüpfen würden. Beide Argumente gehen aber gleichermaßen in die Irre.
Man muss ein derart krasses Wohlstandsgefälle nicht für wünschenswert halten, um festzustellen: An ihm ist das römische Gesellschaftsmodell jedenfalls nicht gescheitert.
Die ökonomische Ausdifferenzierung Roms ging einher mit einer Pluralität der Lebensformen im gesellschaftlichen Bereich. Die verschiedensten Kulturen und Religionen lebten in den Metropolen des Imperiums auf engstem Raum zusammen und machten die großen Städte zu faszinierenden Schmelztiegeln der antiken Globalisierung. Phänomene wie eine verfeinerte Esskultur oder sexuelle Freizügigkeit wurden zwar schon von antiken Dekadenztheoretikern bemäkelt, trugen in Wahrheit aber zur Attraktivität des römischen Systems entscheidend bei.
"Dekadenz" ist ein antiliberaler Kampfbegriff, den sich eine liberale Partei niemals zu eigen machen darf. Dass sich Westerwelles Gegner den Begriff jetzt zu eigen machen und ihn gegen die Lebensformen des FDP-Milieus wenden: das zeigt, wie sehr sich der Parteivorsitzende im Wort vergriffen hat.
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