■ Hartmut von Hentig und seine Schulen: Menschen stärken
Ihm kommt das Verdienst zu, die allzu häufig arg komplizierte Pädagogik auf eine klare Formel gebracht zu haben: Die Menschen stärken und Sachen klären. Das ist nach Hartmut von Hentig der Sinn von Bildungsprozessen. Der 73jährige Pädagoge hat mit diesem Satz zugleich einer Generation von LehrerInnen emanzipatorisches Lernen nähergebracht.
Hentig, Sohn eines französischen Diplomaten, hat allerdings nicht nur die pädagogische Wissenschaft mit Dutzenden von Büchern befördert. Er hat auch hachhaltige Eindrücke in der schulischen Praxis hinterlassen. Nach seiner Lehrzeit an süddeutschen Gymnasien und einem fünfjährigen Abstecher ans Pädagogische Seminar in Göttingen wechselte von Hentig 1968 an die neugegründete Universität Bielefeld. Er entwarf und leitete dort zwei großangelegte pädagogische Experimente: Die Bielefelder Laborschule und das Oberstufenkolleg. Beide waren zugleich Versuchsschulen des Landes Nodrhein-Westfalen und Teil der Universität Bielefeld.
Die Laborschule versucht praktisch vorzuleben, daß Lernen in Lehranstalten viel schwerer fällt als an lebendigen Orten. Hentig und die Bielefelder verwandelten ihre Penne daher in einen „Lebens- und Erfahrungsraum“ – ein Stichwort, das im Zuge der in den letzten Jahren aktuell gewordenen Autonomisierung wieder an Bedeutung gewonnen hat.
Die von vielen beneidete Laborschule hat darüber hinaus Lernziele, die im von der Schulaufsicht bestens bewachten Alltag staatlicher Schulen selten zur Geltung kommen:
– mit Unterschieden im Lernfortschritt leben,
– Schule als Gesellschaft im kleinen,
– Schule als Übergang vom Kindsein zum Erwachsenen.
Die Laborschule umfaßt zehn Jahrgänge, vom Vorschuljahr bis zur 10. Klasse. Insgesamt 660 Schülerinnen und Schüler lernen dort. Statt der Zensuren gibt's „Berichte zum Lernvorgang“.
Gestört fühlt sich von Hentig vom bürokratischen Zugriff der Schulaufsicht wie dem der Rahmenpläne. „Wehren Sie sich gegen die Curricularisierung Ihres Unterrichts!“ sagte er jüngst bei einer Ringvorlesung an der Technischen Universität – und bekam donnernden Applaus von seiner Zuhörerschaft.
Hartmut von Hentigs zweites Schulmodell, das Oberstufenkolleg, sollte die Brücke hin zur Universität schlagen. Die Jahre vor und nach dem Abitur sollten dort nach dem Vorbild eines amerikanischen College zu einem einheitlichen Bildungsschritt zusammengefaßt werden. 1974/75 wurden die ersten 200 KollegiatInnen aufgenommen. Sie waren berechtigt, mit dem fünften College-Semester ihr Hochschulstudium zu beginnen. Eine neue Eingangsphase fürs Studium zu finden ist für den Pädagogen von Hentig heute nötiger denn je.
Von seinem Job in der Schule wie von dem in der Wissenschaft hat sich von Hentig zurückgezogen, von seinen Interventionen in die Bildungsdebatte nicht. Der Herr alter Schule lebt heute in Berlin. cif
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