: Hannelore und der Weihnachtsmann
Ein deutsches Weihnachtsmärchen ■ Von Torsten Preuß
Es trug sich zu in dem kleinen Städtchen Perleberg, im Brandenburgischen. Man schrieb den 10.Dezember 1991. Über den Marktplatz fegte ein kalter Wind. Das Quecksilber verkroch sich auf zehn Grad unter Null. Die Menschen schlugen ihre Kragen ins Gesicht, vermummten sich mit einem Schal und steuerten schnurstracks irgendwohin, wo es warm war. Auf die Frage, ob sie denn an diesem Tag mit etwas Besonderem rechneten, machten sie große Augen und schüttelten den Kopf. Nur ein paar Buben und Mädchen zeigten in die Mitte des Marktplatzes zu einem Bauwerk, welches Bühne genannt wurde. Stolz antworteten sie: „Natürlich, heute abend spielt hier die Gombay Dance Band und der Schlagersänger Heintje.“
Doch bis zum Abend war noch lange Zeit, und dafür, daß vor dem Rathaus von Perleberg schon an diesem frühen Nachmittag ein mittlerer Aufstand stattfand, hatten auch sie keine Erklärung.
Die Kirchturmuhr schlug gerade 14 Uhr, als ein eher altertümliches Automobil, das auf den Namen „Wartburg“ hörte, um die Ecke bog. Auf dem Dach drehte sich ein bläuliches Licht. In seinem Gefolge befanden sich weitere Fahrzeuge, die sehr viel schwerer und moderner waren und alle ein Zeichen auf der Motorhaube trugen, das einem Stern nicht unähnlich schien.
Jetzt dämmerte es auch den Perlebergern, die aufgrund der ungewöhnlichen Menschenmenge vor dem Rathaus neugierig auf dem Marktplatz stehengeblieben waren. Was seit einer halben Stunde nur als Gerücht an ihr Ohr gedrungen war, wurde nun zur Gewißheit: Die Frau ihres neuen Herrn kam zu Besuch.
Kaum einer wußte, welchen Vornamen sie trug. „Christine“, rief eine, „nein, Helga“, sagte eine andere. Beides war falsch, und eine dritte, die verschmitzt „Margot“ rief, wurde mit bösen Blicken bedacht. Nur ein älterer Herr zeigte auf die Begleitung neben sich und sagte richtig: „Hannelore heißt sie, wie meine Frau.“
Weniger Probleme hatten die Versammelten mit dem Namen ihres Mannes. Den hatten sie vor kurzem alle nur „Helmut“ genannt. Jetzt redeten sie bloß noch von „dem Kohl“, und eine ältere Frau attestierte ihm eine Eigenschaft, die sich auf seinen Nachnamen reimte.
Vielleicht ließ er sich deswegen nicht mehr in diesem Teil seines Landes sehen, vielleicht lag es auch daran, daß er einmal in einer anderen Stadt mit Wurfelementen empfangen wurde, die sonst eher auf dem Frühstückstisch zu finden waren.
Egal. An diesem Tag war wenigstens seine Frau vor Ort, doch bevor die Perleberger sie richtig ans Herz drücken konnten, verschwand diese schon im Rathaus. Dort wurde sie vom Bürgermeister empfangen, der seit dem Jahre 1990 eine Frau war. Keine Politikerin, wie sie immer wieder betonte, sondern „eine Gynäkologin“. Hannelore Kohl gefiel das und um es zu unterstreichen, sparte sie nicht mit deutlichen Worten: „Wenn sie Hand anlegen bei der Geburt eines Menschen, können sie auch Hand anlegen bei der Geburt einer neuen Stadt.“ Die versammelten Ratsherren vom Stadtparlament, die, links und rechts sitzend, wie Geschworene dem Schauspiel folgten, grübelten kurz über den tiefen Sinn der weisen Worte und fingen dann an zu klatschen. Besonders laut waren die, die mit zwölf Sitzen die Mehrheit stellten und just der Partei angehörten, deren großer Vorsitzender der Mann des Ehrengastes war.
Die Bürgermeisterin Frau Dr.Fischer nahm alles dankbar zur Kenntnis und bat Hannelore Kohl, sich ins Goldene Buch (das gar nicht aus Gold war) einzutragen. Danach überreichte sie ihr noch eine kleine Überraschung. Neugierig beäugte sie das Präsent, und weil das Fragezeichen im Gesicht der Landesmutter nicht mehr fotogen war, löste die Bürgermeisterin das Rätsel: „Es ist eine Gedenkmünze an den 750.Geburtstag unserer Stadt.“ Erleichtert nahm Hannelore Kohl die Auskunft auf und antwortete: „Ich dachte, es wäre Schuhwichse.“ Nun hatte die Bürgermeisterin ein Fragezeichen im Gesicht.
Draußen gab es dann einen Rundgang durch die „malerische Innenstadt“. Die Perleberger nahmen ihr Herz in beide Hände und gingen auf Tuchfühlung. Ihr größter Wunsch: ein Autogramm. Für Frau Moos, den ständigen Schatten von Frau Kohl, war der Wille des Volkes Befehl. Wie mit Zauberhand holte sie aus einer kleinen schwarzen Tasche immer neue Hochglanzporträts ihrer Chefin hervor und verteilte sie.
Am Straßenrand wiegte ein Polizist, der vor gar nicht so langer Zeit noch einer des Volkes war, bedenklich seinen Kopf. Früher hätte es so etwas nicht gegeben. „Da war alles ordentlich abgesperrt, da war alles unter Kontrolle“, erinnerte er sich. „Aber sie ist ja auch kein Staatsmann“, erkannte er dann und überlegte, ob er nicht auch mal fragen sollte. „Für meine Frau“, wie er versicherte.
Erster Höhepunkt war ein kleiner Rundgang in der St.-Jacobi-Kirche. Hannelore Kohl erwies sich als bescheidene Kennerin altdeutscher Architektur. „Das ist doch alles Gotik hier“, erkannte sie auf den ersten Blick. Die Fachfrau zu ihrer Seite konnte das nur zum Teil bestätigen. Weil sie das in einem Dialekt tat, der erst seit kurzem wieder zum Hoheitsgebiet der Landesmutter gehörte, erfreute sie Hannelore Kohl mit einer kleinen Einlage: „Ich gan och ä bissel Sächsch schbreschen, nu waar.“ Damit war genug gespaßt, die Zeit drängte, denn noch stand an diesem Tag der eigentliche Grund für den Abstecher in die neue Provinz auf dem Programm.
Geschwind ging es mit Blaulicht, aber ohne Eskorte zu einem militärischen Objekt, in dem 600 Kinder aus der Sowjetunion und Deutschland auf den Weihnachtsmann, Väterchen Frost und Hannelore Kohl warteten. Auserwählt wurden die Kinder aus deutschen Grundschulen, die sich in und um Perleberg befanden, und den Schulen, an denen die Kinder der Roten Armee das Einmaleins und mehr paukten.
Unter dem Schild „Weihnachten bei Freunden“ trafen Rekruten der Bundeswehr und der Roten Armee letzte Vorbereitungen für die vorweihnachtliche Bescherung. Ein 19jähriger Wehrpflichtiger stand breitbeinig am Ende einer langen Tafel, hielt den Daumen vor das linke Auge und gab einem Mitgefreiten Kommandos, wie die 36 Tassen exakt in einer Linie aufzustellen seien. Alle Henkel mußten dabei akkurat nach rechts zeigen. „Befehl von oben“, erklärte der junge Mann einigen verwundert dreinblickenden Beobachtern.
Dann öffnete sich draußen der Schlagbaum, drinnen nahmen die Kinder ihre Plätze ein, in Windeseile standen die Tassen in alle Himmelsrichtungen, und Frau Kohl setzte ihren Fuß auf ein Pflaster, das voller Geschichten war.
Zu jener Zeit nämlich, als die „First Lady“ dieses Landes noch blaue statt blonde Haare hatte, war hier ein beliebtes Ausflugsobjekt eines hohen Militärs. Der nannte sich in jener dunklen Zeit „Oberbefehlshaber der Grenztruppen der DDR“ und hatte hier eine Art „Abenteuerspielplatz mit integrierter Ausbildungseinrichtung“ gegründet. Hinten auf dem Hof war ein originalgetreues Modell des „Antifaschistischen Schutzwalls“ nachgebaut, an dem die Soldaten lernen durften, wie mit Hunden und Maschinengewehren Jagd auf Menschen gemacht wurde, die dorthin wollten, wo der Ehrengast dieses Abends, Frau Hannelore Kohl, herkam.
Aber das waren Geschichten aus einem toten Land, und längst hatten alle Beteiligten die Uniformen gewechselt. Mit Weihnachten hatte das alles nichts zu tun, und viel wichtiger sind beim Fest ja die Geschenke. Bevor diese in die kleinen Kinderhände kamen, galt es erst, „das schöne Programm“ durchzustehen.
Den Anfang machte der Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Willy Wimmer, CDU. Er war es, der die Idee zu diesem Fest hatte. Deswegen lobte er selbiges auch in den höchsten Tönen und wies vor allem darauf hin, „daß die Firma Tengelmann und Kaiser so uneigennützig das Essen und die Geschenke spendierten“. Das war er seinem alten Freund, dem Prokuristen dieser Firma, schuldig.
Ungeduldig hingen die Blicke der Kinder an den vor der Bühne aufgebauten Supermarktgeschenktüten, doch bis dahin war es noch ein anstrengender Weg.
Als nächstes redete auf die Kinder die Chefin des Unternehmens Tengelmann ein. Zwar las sie ihre Rede in Russisch vom Blatt ab, aber das kostete Zeit. Danach wandte sich die Bürgermeisterin Frau Dr.Fischer an die Kinder. Sie aber hörten längst nicht mehr zu, und das, obwohl die Hauptrednerin noch gar nichts gesagt hatte.
Als Hannelore Kohl dann kam, den lieben Kleinen „einen schönen Gruß von unserem Helmut Kohl“ ausrichtete, war schon fast eine Stunde vergangen. Die Kinder, die immer unruhiger wurden, munterte sie mit einem Spruch auf, der Eingeweihte an die Kunst des „Aussitzens“ erinnerte: „Die Zeit vergeht schneller, wenn man ruhig ist.“
Der kleine Martin biß derweil in ein Stück Kuchen und hatte kurz danach den Puderzucker im Gesicht. Das erfreute seine Kumpels am Tisch mehr als Hannelore Kohl, die gerade bei den „Bausteinen der Völkerverständigung“ angelangt war.
Als dann der Blick zurück nach Dresden gelenkt wurde, „als mein Mann zum ersten Mal als Bundeskanzler zu den Bürgern der ehemaligen DDR sprechen konnte“, stritten sich die elfjährige Christin und die zehnjährige Jannet, ob Hannelore Kohl nun älter oder jünger als ihre Maske in Hurra Deutschland aussieht.
Erst als der versammelte Hofstaat mit Klatschen anfing, merkten die Kleinen, daß die Rede zu Ende war. Aber noch stand der Tagesordnungspunkt „Kinderstreicheln vor der Kamera“ auf dem Protokoll.
Nadja und Wladimir nahmen Platz im Schoß der Landesmutter und lächelten hilflos in das gnadenlose Licht der Fernsehscheinwerfer.
Dann spielte das Luftwaffenorchester Berlin den Weihnachtsoldie Oh Tannenbaum an, und endlich war es soweit. Nach zwei Stunden und fünf Minuten betraten Väterchen Frost und der Weihnachtsmann den Saal. Die beiden waren die ersten, die die Kinder sofort erkannten und stürmisch begrüßten. Doch noch war ein letztes Mal Geduld gefordert. Die beiden Publikumslieblinge mußten erst zum Gruppenbild mit Dame auf die Bühne. Dann aber freuten sich vor allem die russischen Kinder über Puppen aus dem Disneyland, Kaugummis und Schokolade. Die Erzieher griffen mit beiden Händen zum ausgeteilten „Melitta Auslese Kaffee“, und Hannelore Kohl übernahm noch einmal das Mikrofon, um sich bei der kleinen Jana zu bedanken: „Sie hat das Weihnachtsgedicht in russischer Sprache aufgesagt. Das soll uns ein ganz großes Vorbild sein.“
An der Wand lehnten derweil zwei 19jährige Rekruten aus Magdeburg. Die Wortfetzen „russisch“, „Gedicht“ und „Vorbild“ machten sie nachdenklich. „Irgendwie kommt mir das alles hier unheimlich bekannt vor.“ Darauf traf sie der kritische Blick ihres Vorgesetzten aus Westdeutschland.
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