Hamburger Staatsrätin zur Jugendhilfe: Kinder in Not nicht herumschieben
Senat will Drehtüreffekte beim Kinder- und Jugendnotdienst stoppen. Das Problem seien Kinder, die keinen Platz finden, sagt Staatsrätin Petra Lotzkat.
An Hamburgs KJND gibt es seit Jahren Kritik von verschiedenen Seiten. Als 2022 die Zahl der unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten wieder anstieg, wurden auf einem Teil des Grundstücks Container aufgebaut. Nunmehr gibt es auf dem Areal mit der Notunterbringung für hier aufgewachsene Kinder, einem Mädchenhaus und der Erstaufnahme für Geflüchtete 155 Plätze, was sehr groß für eine Jugendhilfeeinrichtung ist.
Wie jüngst eine Anfrage der Linken zu Tage brachte, gab es im ersten Halbjahr 2024 dort rund 350 besondere Vorkommnisse, darunter etwa 70 Körperverletzungen und fünf Suizidversuche. „Die Lage ist katastrophal – und sie wird es auch bleiben, wenn nicht endlich etwas passiert“, sagte die Linken-Jugendpolitikerin Sabine Boeddinghaus.
Linke fordert Aufteilung auf mehrere Orte
Sie hatte im Herbst vergeblich beantragt, dass der KJND auf drei Standorte in der Großstadt Hamburg verteilt wird und sich dabei auch auf ein Forschungsprojekt aus den Jahren 2019 bis 2020 berufen, wonach der KJND „in seiner jetzigen Form geschlossen oder jedenfalls ganz neu konzipiert“ werden müsste.
Sozial-Staatsrätin Petra Lotzkat, in der Behörde seit 2018 für die Jugendhilfe zuständig, kommt zu einer anderen Analyse: Die pauschale Kritik tue dem KJND unrecht. „Zum einen verlassen sehr viele in Obhut genommene Kinder den KJND sehr schnell wieder“, sagt Lotzkat. „Andere Kinder fühlen sich dort zum ersten Mal angenommen und wollen im Einzelfall dort sogar bleiben.“ Jährlich würden rund 1.400 Kinder und Jugendliche aus Hamburg in Obhut genommen, viele von ihnen im KJND – die rund 1.000 unbegleiteten, minderjährigen Flüchtlinge nicht eingerechnet. In den meisten Fällen blieben die Kinder nur kurze Zeit, bevor sie ein neues Zuhause fänden.
Doch es gebe eine Gruppe von Kindern, die schon mehrfach die Einrichtung wechseln mussten und die die Träger dem KJND dann wieder vor die Tür stellten. „Dieser Drehtüreffekt belastet die Kinder sehr. Sie haben jedes Mal die Erfahrung zu versagen“, sagt Lotzkat. Und es werde immer schwieriger, für sie eine Einrichtung zu finden. Erst recht, wenn, wie jüngst wieder, einzelne Kinder als besonders schwierig oder sogar gefährlich in der Presse vorgeführt würden.
Das Problem sei der Abfluss beim KJND, sagt Lotzkat. Um diesen zu verbessern, seien schon viele Maßnahmen ergriffen worden, die aber nicht ausreichten. Die Behörde wolle deshalb im Herbst auf die Träger der stationären Jugendhilfe zugehen und Vereinbarungen treffen, um solche Drehtüreffekte zu minimieren. „Wir könnten uns zum Beispiel darauf verständigen, dass ein Träger ein Kind erst dann wieder abgeben kann, wenn für das Kind ein neuer Ort gefunden wurde“, sagt die Staatsrätin.
Künftig Budgets statt Einzelfall-Finanzierung?
Die Vereinbarungen könnten darin bestehen, dass die Träger nicht mehr über Einzelfälle finanziert werden, sondern Budgets bekommen. Das könnte auch die Kooperation der Träger untereinander erleichtern, hofft Lotzkat. „Wenn ein Träger ein Kind nicht halten kann und rechtzeitig sagt ‚Es passt nicht in unsere Einrichtung‘, dann könnte man gemeinsam klären, was für dieses Kind eine Lösung sein kann, ohne dass es wieder im KJND untergebracht werden muss.“
Abgesehen von besagter 24-Stunden-Aufnahmebereitschaft sei die Behörde sehr offen dafür, weitere dezentrale Einrichtungen auch bei freien Trägern zu schaffen, wo die in Obhut genommen Kinder wohnen könnten. Einige wenige Träger böten das auch bereits an. „Wir bemühen uns darum seit zwei Jahren und haben da keine ideologischen Bedenken“, sagt die Staatsrätin. Schon heute würden 60 Prozent der Kinder außerhalb des KJND an anderen Orten der Stadt in Obhut genommen.
Hamburgweit sei der Mangel an Fachkräften und geeigneten Liegenschaften ein Problem. Zudem nähmen die Konflikte in Familien und die Schwere der Fälle zu, was auch noch mit der Coronazeit zu tun habe. „Wir haben aber viel mehr Meldungen von möglichen Kindeswohlgefährdungen als tatsächliche Fälle. Das zeigt, dass die Jugendhilfe das gut macht und es gelingt, Probleme gut zu diagnostizieren und auch im Sozialraum aufzufangen“, sagt Lotzkat.
Streitpunkt Alters-Festlegung
Eine weitere Kritik am KJND im Zusammenhang mit den minderjährigen Schutzsuchenden betrifft die Altersfeststellung. Die Hamburger Morgenpost berichtete jüngst, dass der Fachdienst Flüchtlinge im KJND 16-Jährige willkürlich als volljährig eingestuft habe, worauf sie in Einrichtungen für Erwachsene kamen. Die Beratungsstelle „Fluchtpunkt“ habe daraufhin in 89 Fällen eine Überprüfung beim Institut für Rechtsmedizin durchgesetzt, die ergeben habe, dass 75 von diesen jünger als 18 waren.
Darauf angesprochen sagte Lotzkat, die Mitarbeiter des KJND machten eine „Inaugenscheinnahme“ an Hand wissenschaftlicher Kriterien, für die sie vom Institut für Rechtsmedizin (IFR) geschult worden seien. In Zweifelsfällen werde das Alter durch das IFR medizinisch festgestellt. Dieses könne aber verlässlich nur das sogenannte Mindestalter der Kinder- und Jugendlichen bestimmen.
Alle, die solcherart vom IFR als möglicherweise erst 17,4-jährig und damit als minderjährig eingestuft wurden, nehme der KJND zurück. Sie seien aber in der Mehrzahl fast volljährig. „Wir können sie dann nicht mit den jüngeren Kindern in einer Gruppe zusammenfassen, denn auch diese haben einen Schutzbedarf und zu große Altersunterschiede führen zu Machtgefällen und Unausgewogenheiten in den Gruppen“, sagt Lotzkat. Sie kämen aber nicht in Erwachsenenunterkünfte, sondern in eigene Einrichtungen, wo sie auch im Rahmen der Hilfe für junge Volljährige bleiben könnten und zudem aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds ein Bildungsangebot erhielten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Nachhaltige Elektronik
Ein blauer Engel für die faire Maus
James Bond
Schluss mit Empfindsamkeit und Selbstzweifeln!
Bodycams bei Polizei und Feuerwehr
Ungeliebte Spielzeuge
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach