Hamburger Jugendlicher über die Haasenburg: "Alle sagen: Scheiße, ich will hier raus"
Nicht am Fenster stehen, nicht aufs Bett setzen, Kontrolle selbst beim Duschen. Ein Hamburger Jugendlicher kommt zurück aus dem Heim in Brandenburg und berichtet.
taz: Nikolas, wann und weshalb kamst du in die Haasenburg?
Nikolas: Ich habe Diebstähle begangen und die Schule geschwänzt. Und ich kam nicht mit meiner Mutter klar. Deshalb bin ich auf Antrag meiner Amtsvormünderin im Juni 2011 dorthin gekommen.
Und wie war das?
Ich wurde von fünf Erziehern empfangen und gleich auf mein Zimmer gebracht. Dort war nur ein Bett, ein Tisch, ein Plastikstuhl, sonst gar nichts. Ich musste meine schwarze Jeans gegen eine helle Jogginghose tauschen. Alles Weitere musste man sich erarbeiten. Ich musste einen Aufnahmeordner mit vielen Aufgaben durcharbeiten.
Allein 18 Seiten zur Frage, welche Gewalterfahrungen ich hatte, mit einem kurzen Bleistift. Und jedes Mal, wenn mehr als drei Fehler auf einer Seite waren, musste ich alles neu schreiben. Ich habe eine Lese-Rechtschreib-Schwäche. Darauf nahmen die keine Rücksicht, deshalb dauerte das bei mir sehr, sehr lange.
15, heißt in Wirklichkeit anders und ist in Hamburg geboren und aufgewachsen. Er hat eine Heimkarriere hinter sich und lebte von Sommer 2011 bis Anfang 2013 im Haus Müncheberg der Brandenburgischen Haasenburg GmbH.
Das Heim hat drei Phasen. Du warst zunächst in der „Phase Rot“ mit den wenigsten Freiheitsrechten. Wie lang ging die?
Im Prinzip anderthalb Jahre. Erst am Schluss kam ich in „Phase Gelb“.
Die brandenburgische Haasenburg GmbH betreibt die drei Heime Müncheberg, Neuendorf und Jessern mit insgesamt 60 Plätzen.
Ihr Konzept einer orthodoxen Verhaltenstherapie ist stark umstritten. Die GmbH selbst schreibt, dieses sei "in Fachwelt, Lehre und Praxis seit Jahren bekannt und hoch angesehen".
Aus Hamburg waren dort im Dezember 15 Minderjährige, der jüngste ist zwölf. Von elf ist bekannt, dass sie sich in "Phase Rot" befanden. Im Januar kamen zwei auf Gerichtsbeschluss frei.
Hattest du Kontakt zu anderen?
Ich hab in der Anfangsphase 90 Tage auf meinem Zimmer gesessen und durfte mit keinem anderen Jugendlichen reden. Man kann in der Zeit durch das Einhalten von Regeln Chips sammeln. Für zwei Chips darfst du an der Abendrunde teilnehmen.
Was ist das?
Das sitzen alle im Kreis und sollen sagen, wie ihr Tag war und ob sie ihre Chips verdient haben. Die Erzieher sagen dann, ja du hast den Chip verdient. Oder nein, du hast gegen Verhaltenspunkt so und so verstoßen. Aber man darf während der Neuaufnahme-Phase sowieso nicht dahin. Ich durfte erst im Herbst an diesen Abendrunden teilnehmen. Dann bin ich aber in einer Kurzschlussreaktion weggelaufen. Die haben dazu „Fluchtversuch“ gesagt und mich wieder zurück auf Null gestuft.
Also wieder nur im Zimmer?
Ja.
Kamst du an die frische Luft?
Einmal am Tag bin ich 20, 30 Minuten ums Haus gegangen. Unter Bewachung von vier Erziehern.
Was war das Schlimmste?
Dass ich permanent unter Beobachtung stand. Sogar nachts haben die mit der Taschenlampe ins Zimmer geleuchtet und waren richtig laut. Auch wenn ich auf Klo ging, stand die Tür richtig offen. Und beim Duschen stand ein Erzieher direkt vor der durchsichtigen Duschtür.
Hatten die Angst, dass du Seife verschluckst?
Die hatte ich ja gar nicht drin. Wir mussten das Duschgel immer gleich wieder rausgeben.
Also haben sie dich nackt gesehen. Nahmen sie keine Rücksicht auf dein Schamgefühl?
Nein.
Ich hörte vom Landesjugendamt, man wolle eben aufpassen, dass ihr Jugendlichen euch nicht verletzt.
Das war bei mir kein Thema. Ich hab mich nie geritzt oder so. Da werden einfach alle Jugendlichen über einen Kamm geschert.
Hast du Gewalt erfahren?
Gleich am ersten Tag saß ich in einer Lücke zwischen Bett und Wand auf dem Boden und hab geweint. Dort darf man aber nicht sitzen, weil die Erzieher einen dann nicht sehen können. Da kamen zwei Erzieher rein und haben mich dort hervorgezerrt, einer rechts, einer links.
Sie haben mir beide Arme auf den Rücken verdreht und beide Handgelenke so umgebogen, dass die Gelenke später sehr weh taten. Dann haben sie mich auf den Boden gebracht – zwei 100-Kilo-Männer – und 20 Minuten dort festgehalten. Von dem rauen Brandschutz-Teppich hatte ich Schürfwunden am Kopf und an der Hand.
Ihr durftet nicht mal auf dem Boden sitzen?
Ja. Und man darf auch nicht auf dem Bett sitzen oder liegen, sonst nehmen die das raus. Die sagen, das ist nur zum Schlafen.
Ist so etwas noch mal vorgekommen?
Ich musste mal zwei Stunden stramm stehen im Zimmer. Dass nennen die Auszeit. Das dauert so lange, bis sie meinen, dass man wieder runtergekommen ist. Nur: Was man dafür tun muss, weiß man halt nicht.
Wie kam es dazu?
Ich hatte am Fenster gestanden. Das darf man nicht, weil man Kontakt zu anderen Jugendlichen aufnehmen kann. Dann wurde ich gebeten, vom Fenster wegzugehen. Ich bin dann aufs Bett und hab geweint. Da kamen die Erzieher rein und haben mir die Auszeit gegeben. Die wollte ich nicht annehmen, weil ich nichts Böses gemacht hab. Dann haben die gesagt, du bleibst hier in der Mitte stehen, bis wir wiederkommen. Das hat zwei Stunden gedauert. Ich konnte mich nicht setzen, obwohl mir die Beine weh taten. An dem gleichen Abend musste ich noch mal stehen.
Wie wissen die Erzieher, was du tust?
Die Tür steht immer eine Handbreit offen. Ein Erzieher geht immer rum und guckt rein und bewacht mehrere Türen. Wenn etwas passiert, drückt er seinen Alarmknopf am Walkie Talkie und sie kommen alle angerannt. Auf der Etage ist auch ein Time-out-Raum. Da kommt man auch rein, wenn man Anweisungen nicht annimmt.
Zum Beispiel?
Wenn man mit einem Lehrer oder Erzieher eine heftige Diskussion hat und etwas lauter wird. Dann kommen die sofort rein. Ein Erzieher hat mich zum Beispiel auf meinen Strafprozess angesprochen, bei dem er dabei war. Die Sache ist jetzt erledigt, ich bekam einige Arbeitsstunden auferlegt. Aber er hat mich später wegen meiner Aussage als Lügner bezeichnet. Das machen die häufiger, dass sie extra provozieren, das haben sie auch zugegeben. Angeblich um meine Frustrationsgrenze zu testen und zu erhöhen.
Bist du mal gewalttätig geworden?
Nein. Es ging immer nur um Worte und laut werden.
Wie war dein Alltag?
Anstrengend. Man hat einen ganz engen Stundenplan. Ich wurde oft nicht fertig mit dem, was von mir verlangt wurde. Mittagsessen, Entspannungsübung und Abwasch zum Beispiel muss in einer Stunde erledigt sein. Nachmittags gibt es laut Plan anderthalb Stunden Gartenprojekt oder Sporttherapie. Das fällt oft aus. Dann muss man wieder am Schreibtisch sitzen und über Gartenarbeit schreiben.
Ich war im Haus Müncheberg, da gibt es die strengsten Regeln von allen Häusern. Man muss zum Beispiel immer rechts neben dem Erzieher laufen und geradeaus gucken und eine Armlänge Abstand halten.
Uns liegen Hausregeln vor, in denen das nicht steht.
Das sind die von Haus Neuendorf. Die geben sie immer raus, wenn Behörden fragen.
Wurden deine Briefe gelesen?
Ja, das kam vor. Auch wenn ich mit meinem Anwalt telefonierte, wurde mitgehört. Und ich wurde danach für das, was ich gesagt hab, kritisiert.
Was hat das mit dir gemacht, dass du so bewacht wurdest?
Es war schwer. Ich hab mich auch öfter beschwert. Zum Beispiel bei der Heimleitung und bei der Beschwerdekommission von Professor Dr. Bernzen. Es kam auch eine Sozialpädagogin und hat mit mir gesprochen, aber danach habe ich nichts mehr davon gehört. Später habe ich in einem Brief an mich gesehen, dass der Professor als Anwalt der Haasenburg arbeitet.
Seit einigen Tagen bist du wieder in zurück Hamburg. Wie bist du aus der Haasenburg rausgekommen?
Mein erster Unterbringungsbeschluss war im Sommer 2012 verlängert worden. Und das, obwohl der Gutachter bei mir keine Selbst- oder Fremdgefährdung sah. Dagegen hab ich Beschwerde eingelegt, nur handschriftlich per Brief, ohne Anwalt, weil ich keinen hatte. Ich hab geschrieben, dass die 24-Stunden-Kontrolle und das Ausgeschlossensein aus der Gruppe für mich fürchterlich ist und dass ich für eine gesunde Entwicklung den natürlichen Kontakt zu anderen Jugendlichen brauche.
Ich hab dann zum Glück über das Gericht Hilfe von einer Anwältin bekommen. Die hat gesagt, dass es sich bei meiner geschlossenen Unterbringung um eine Art Sicherheitsverwahrung handelt, die gegen das Gesetz verstößt.
Glaubst du, dass das Heim für manche Jugendliche gut ist?
Nein. 90 Prozent der Jugendlichen dort sind scheinangepasst, die sagen nur das, was die Erzieher hören wollen, ohne sich wirklich zu verändern. Hinter deren Rücken sagen alle: „Scheiß Haasenburg, ich will hier raus.“
Was für Jugendliche sind dort?
Teilweise welche, die Straftaten begangen haben oder Schule geschwänzt haben. Oder welche, die PC-süchtig sind, und die Eltern sich nicht genug drum kümmern. Und einige mit Drogenproblemen. Es gab Fälle, bei denen ich mich persönlich gefragt hab, was macht der hier.
Hattest du doch noch Kontakt zu anderen?
Ja, am Ende. Man darf aber, wenn die Erzieher dabei sind, nicht über früher reden. Wir haben uns heimlich Briefe geschrieben oder versucht zu reden, wenn ein Erzieher mal ein paar Minuten draußen war.
Gab es einen Erzieher, mit dem du dich gut verstanden hast?
Ja. Aber es sind viele gegangen. Die meisten sind auch gar nicht Erzieher von Beruf, sondern Bäcker, Landwirt oder Fleischer. Pro Etage gibt es oft nur eine richtige Fachkraft.
Wie lief das mit der Schule weiter?
Ich hatte Unterricht zuerst lange nur auf meinem Zimmer, dann später in der Gruppe. Ich hatte mich schließlich auch beim Landesschulamt für die externe Hauptschulprüfung angemeldet. Aber das haben sie mir versaut, weil ich an dem Tag auf meinem Zimmer bleiben musste.
Warum das?
Ich hatte drei Chipverluste hintereinander, weil ich gegen meine Verhaltenspunkte verstoßen hatte. Einer heißt, ich mach keine herablassenden Äußerungen. Ich hatte so etwas gesagt wie: „Oh, was ist das für’n Scheiß.“ Ein anderer war: Ich halte Ordnung auf meinem Zimmer. Da sind die sehr streng. Da reicht es schon, wenn die Sachen auf dem Schreibtisch nicht ordentlich liegen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
Die Wahrheit
Herbst des Gerichtsvollziehers