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Hamburger ComicfestivalDie Superkraft der langen Arme

Alice Socals abgründigen Comic „Sandro“ hat die deutsche Kritik ignoriert. Beim Comicfestival Hamburg kann man ihr Werk entdecken.

Haben beide imaginäre Gefährten, die ihr Leben bestimmen: Pallas und Frank Illustration: Alice Socal

BREMEN taz | Manche Comics werden von der Kritik übersehen. Das hat oft banale Ursachen, aber manchmal greift bei KritikerInnen zugleich auch eine Art Selbstschutzmechanismus, eine unbewusste Abwehr. Einen Comic, der zu sehr auf die Pelle rückt, bespricht man nicht so gern. Und dann bleibt Alice Socals „Sandro“ halt unrezensiert, völlig zu Unrecht.

Aber eben nicht aus unerfindlichen Gründen. Das kann jeder beim zehnten Hamburger Comicfestival selbst erfahren. Denn der im Frühjahr bei Rotopolpress erschienene abgründige Comicroman der in Hamburg lebenden Venezianerin hat eine so eigenständige Ästhetik, dass sie zu bemerken Pflicht wäre fürs Feuilleton.

Man muss sich von diesem Buch behelligen lassen

Wie Socal mit zeichnerischen und erzählerischen Konventionen bricht, wie sie räumliche, zeitliche, reale und geträumte Dimensionen ineinander verkeilt und wie sie mit bewusst unbeholfenem Strich den Bildern die zögernde Zärtlichkeit ihres Protagonisten einpflanzt, das kann man nicht übersehen. Da müsste man etwas zu sagen. Aber dafür muss man sich von dem Buch behelligen lassen.

Comicfestival Hamburg

Das 10. Comicfestival Hamburg beginnt am 29. 9., das 24-seitige Programm gibt’s unter www.comicfestivalhamburg.de.

Mit seiner Erstauflage vor zehn Jahren reagierten die Gründer auf die große Bedeutung Hamburgs für die boomende deutsche Comicszene.

Als Comichauptstadt gilt Hamburg auch durch die Präsenz wichtiger Verlage wie Carlsen, Tokyopop, Schreiber + Leser.

Wichtiger ist der Einfluss des von Anke Feuchtenberger an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften geleiteten Studiengangs.

„Sandro“ erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, dessen schütterer Schnurrbart aus 21 fahrigen Bleistiftstichhaaren eher seine Adoleszenz als seine Virilität betont. Schon seit seiner Kindheit rufen ihn Frank und alle anderen Mitschüler nur Pallas, nach einem heute komplett vergessenen Naturkundler. Der 1742 in Berlin geborene Peter Simon Pallas hat über Eingeweidewürmer geforscht, die Einsamkeit Sibiriens bereist und in Krasnojarsk einen Meteoriten entdeckt.

Für die interessiert sich der junge Mann, der nach ihm benannt wird: Verletzlich wirkt er, sensibel, wie ein Träumer – mit ausgeprägter Ich-Spaltung. Der imaginäre Freund seiner Kindheit, Sandro, eine Trostfigur, die statt Superkräften „ganz lange Arme“ zum Kuscheln hat und unsichtbar ist, verlässt ihn auch als Twen noch nicht.

Ist das eine Heimsuchung? Oder ist das eine Rettung? Oder beides? Natürlich beides. Dass Pallas seinen 26. Geburtstag so ganz solo feiert, und auch, dass er schon zehn Jahre zuvor den Sommer „alleine in einem Plastikstuhl verbracht“ hat, hängt damit zusammen, dass in seinem Inneren noch jemand haust.

Sandro trägt eine schwarze Knubbelnase und einen dunklen Hoodie mit kindischen Ohren-Applikationen. Die erinnern mal an die von Micky Maus, mal an jene des gruseligen Silberhasen aus „Donnie Darko“, diesem legendären Film von 2001. Manchmal scheinen sie, beim Blick in den Spiegel, beim Schattenwurf am Kamin, direkt aus dem Kopf von Pallas zu sprießen.

Mit niemandem ließen sich schönere Abenteuer erleben als mit Sandro: In Sepiafarben gestaltet Socal die mentale Wirklichkeit ihres Protagonisten, also einerseits die Erinnerungen, aber auch die visionären Momente, die Vorgriffe.

In Sepia jedenfalls denkt Pallas an seinem 26. Geburtstag daran, wie er mit Sandro bei einer Fantasieexpedition unterm Kinderzimmertisch vor sintflutartigen Regenfällen Zuflucht gesucht und einen Vulkan bestiegen hat. Sandro war schuld, wenn fast die ganze Torte weggenascht war, wer denn sonst! Und zu wem, wenn nicht zu seinem Sandro, könnte man den Satz „Jetzt fahren wir nach Sibirien und suchen die Meteoriten“ sagen?

Doch hat Sandro eben auch die dumme Angewohnheit, sich immer dann zu melden, wenn Pallas fast einen Schritt in die Erwachsenenwelt tun würde, wenn er beinahe den ersten Sex hätte, wenn er … – es ist ein Leid: „Deine langen Arme gaben mir keine Sicherheit mehr“, klagt Pallas in einem eindrucksvollen Splash, in dem Socal die biegsamen Gliedmaßen des fiktiven Begleiters teils in eine verschlungene Straße, teils in eine Riesenpython verwandelt. „Ich fühlte mich, als würde ich ersticken.“

Pallas macht, er ist hier 16, besoffen und bekifft, den Kühlschrank in der Küche bei Freund Frank auf. Drinnen liegt: der Kopf von Sandro. Grinst. Frank wird später vor den Trümmern einer Wassermelone stehen. „Ich hatte ein riesiges Chaos angerichtet“, sagt Pallas. Das führt dazu, dass er die Schule wechselt, von der Bildfläche verschwindet, alle Kontakte abbricht. Auch zu Frank.

Parasitäre Geschöpfe

Frank, das ist Pallas' Widerpart, der tatkräftige in der Jungsclique. Mit beiden Beinen im Leben. Er ist derjenige, der das Hasch besorgt und das Bier. Er ist derjenige, der Sex hat. Jetzt jobbt er natürlich. Als Postbote ist er unterwegs. Dadurch begegnen die zwei einander wieder. Denn Frank bringt die Päckchen. Und Pallas hat Geburtstag. Und erkennt: Auch dieser normgerechte Frank wird von einem parasitären Geschöpf heimgesucht.

Das Prinzip des Realismus ist eine dreiköpfige Gans. Die drängt sich jedem, der sich nicht wehrt, als Livecoach auf. Und hetzt ihn dann auf der Suche nach Erfolg und Karriere und Happiness erbarmungslos mit ihren drei gefährlich spitzen Schnäbeln. Bis zur Erschöpfung, bis zum Umfallen. Bis zum Burn-out.

Weil er sich die Fähigkeit bewahrt hat, der unterkuschelten Welt durch eine Umarmung zu entfliehen – ist allein Pallas in der Lage, ihn aus den Fängen dieser Quälgeister zu befreien. Pallas selbst wird so zum Sandro. Er legt den dunklen Hoodie an. Er trägt die bescheuerten Mausohren mit Würde. Und wie schüchtern und ungelenk er auch sein mag: Er wird – genau das bedeutet ja der Name Sandro – zum Beschützer.

Ein Superheld, dessen einzige Superkraft seine langen Arme sind. Und dessen Heldentat darin besteht, sichtbar geworden zu sein. Möglicherweise (und die Ambivalenz bewahrt vor der Abdrift in den Kitsch) indem hier jemand laut Ja sagt – zu seiner Psychose.

Alice Socal: Sandro. Rotopolpress 2016, 120 Seiten, 18 Euro

Beim Comicfestival Hamburg liest Alice Socal am Freitag, 30.9., ab 20 Uhr, in der Hanseplatte, Neuer Kamp 32

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