Hamburger Boxer ist verzweifelt: „Das wäre ein Skandal“
Der Hamburger Ammar Riad Abduljabbar boxte sich bei Olympia für das deutsche Team bis ins Viertelfinale. Nun soll seine Mutter abgeschoben werden.
taz: Ammar, als Sie erfahren haben, dass Ihre Mutter abgeschoben werden soll: Wie haben Sie reagiert?
Ammar Riad Abduljabbar: Ich bin ausgerastet. Ich dachte mir: Warum? Wie kann das sein? Wen soll ich um Hilfe bitten? Wir haben den Brief bekommen, in dem stand, dass meine Mutter am 5. Oktober das Land verlassen muss. Es war ein schreckliches Gefühl. Wir haben so lange dafür gearbeitet, dass wir alle zusammen sein können. Und jetzt soll sie gehen.
Der erste Brief kam 2020. Was ist in der Zwischenzeit passiert?
Viele Menschen habe ihre Hilfe angeboten, aber es hat sich nichts verändert. Wir haben immer noch als letztes Schreiben die Ablehnung bekommen. Aber ich glaube nicht, dass meine Mama in den Irak abgeschoben wird. Das wäre ein Skandal. Das kann nicht passieren. Ich boxe für Deutschland, ich war bei Olympia unter deutscher Flagge dieses Jahr. Ich habe mich im goldenen Buch im Rathaus eingetragen. Ich bin sogar bei der Bundeswehr! Ich bin ein Teil von Hamburg und Hamburg ist ein Teil von mir. Es geht nicht, dass sie uns trennen.
Warum ist Ihre Familie von der Abschiebung bedroht?
Ich habe die deutsche Staatsbürgerschaft, mein Vater hat einen unbegrenzten Aufenthaltstitel. Meine Mutter hat kein eigenes Geld verdient und kann nicht so gut Deutsch. Aber ich kenne mich da nicht so aus. Um den Papierkram hat sich meine Schwester gekümmert. Ich habe finanziell unterstützt. Wir haben immer als Familie gehandelt.
Haben Sie ein enges Verhältnis zueinander?
Familie ist das Wichtigste. Meine Eltern haben sich um mich gekümmert und jetzt bin ich dran. Meine Geschwister schaffen das auch gut allein, aber Mama und Papa sind meine Aufgabe. Vorher waren wir immer zusammen, haben Filme geguckt, gegessen … Jetzt sehe ich meine Familie wenig, weil ich so viel trainiere.
Sollen Ihre Geschwister auch abgeschoben werden?
Meine Schwester nicht. Mein Bruder sollte abgeschoben werden, aber er macht jetzt eine Ausbildung als Maler. Er wird also wahrscheinlich bleiben können, aber das hat viel Zeit und Kraft gekostet.
Haben Sie versucht, juristisch dagegen vorzugehen?
Ja, wir sind zu einem Anwalt gegangen und haben Einspruch eingelegt, aber wir haben eine Ablehnung bekommen. Die Ablehnung ist immer noch da. Es könnte jeden Tag passieren, dass meine Mama von der Polizei mitgenommen wird. Sie darf Hamburg nicht verlassen. Ihre Mutter ist krank im Irak, aber sie kann sie nicht besuchen, weil sie dann nicht wieder einreisen kann. Das macht sie traurig.
Was würde es für Ihre Mutter bedeuten, zurück in den Irak gehen zu müssen?
Es gibt ein Video auf Facebook von meiner Mutter, wie sie ohne Kopftuch mit meinem Vater im Auto fährt. Ihre Geschwister reden seitdem nicht mehr mit ihr. Die Mentalität im Irak, in dem Dorf, aus dem wir kommen, ist einfach anders. Das Risiko, dass ihr etwas passieren könnte, ist zu groß. Vor ein paar Jahren ist eine Frau ermordet worden, die ich kannte, weil sie angeblich nicht religiös war. Sie wurde einfach so auf der Straße erschossen. Wenn meine Mama abgeschoben wird, zerstört das mein Leben. Aber ich würde eher mein Leben zerstören, als meine Mama allein gehen zu lassen.
26, wurde im Irak geboren und kam mit 15 Jahren nach Deutschland. Er begann in Hamburg zu boxen, derzeit trainiert er beim SV Polizei Hamburg. 2018 wurde er Deutscher Meister im Schwergewicht. Dieses Jahr kam er als letzter deutscher Boxer ins Viertelfinale der Olympischen Sommerspiele in Tokio, wo er gegen den amtierenden Weltmeister ausschied. Seit vergangenem Jahr ist seine Mutter bedroht, in den Irak abgeschoben zu werden.
Sie würden also im Ernstfall mit ihr gehen?
Zu hundert Prozent. Auch wenn ich weiß, dass meine Karriere dann komplett vorbei wäre. Ich kann mir nicht vorstellen, im Irak zu leben. Hamburg kenne ich in- und auswendig, alle meine Freunde sind hier. Ich bin Deutschland sehr dankbar.
Warum?
Stell dir vor, dein Bruder ist sehr krank. Niemand hilft ihm. Egal wo du hingehst, du wirst weggestoßen. Doch eines Tages kommt ein fremder Mann, der sagt, dass er deinem Bruder hilft. Der fremde Mann gibt dir die Möglichkeit zu leben, zur Schule zu gehen, deine Träume zu verwirklichen. Und er tut alles dafür, dass dein Bruder wieder gesund wird. Dieser Mann ist bestimmt nicht perfekt, er macht Fehler. Aber er gibt dir Möglichkeiten, die du davor nicht hattest. Sag du es mir, wärst du diesem Mann nicht dankbar?
Bröckeln diese Dankbarkeit und das Vertrauen in Deutschland jetzt?
Nein. Deutschland hat meinen kleinen Bruder gerettet. Er hatte ein Loch im Herzen. Als wir ankamen, waren wir nicht mal krankenversichert, aber sie haben ihn trotzdem operiert. Sie haben ihn behandelt, weil er ein Mensch ist. Natürlich macht es mich traurig, wenn meine Mutter gehen muss. Es wäre ein Fehler. Aber ich würde dadurch Deutschland nicht hassen. Ich kann nicht vergessen, was dieses Land für mich getan hat.
Sie meinen die Geschichte mit Ihrem Bruder?
Schon wenn er wenige Meter ging, konnte er nicht mehr atmen, hat nach Luft geschnappt. Ich habe ihn oft auf dem Rücken getragen. Eigentlich hätte er als Baby operiert werden müssen und nicht erst als 11-Jähriger. Im Irak gab es diese Möglichkeit nicht, deswegen ist mein Vater hierhergekommen.
Ihr Vater kam erst allein nach Deutschland?
Ja, er wollte seinen Sohn retten und uns ein besseres Leben ermöglichen. Er ist sechs Monate zu Fuß unterwegs gewesen, bevor er hier angekommen ist.
Wie lange hat es gedauert, bis Sie und Ihre restliche Familie nachkommen konnten?
Acht Jahre. Mein Vater durfte nicht arbeiten und konnte kein Geld zurückschicken. Deswegen habe ich mit neun Jahren angefangen zu arbeiten. Ich habe Plastiktüten verkauft, bin jeden Tag um 4 Uhr aufgestanden. Ich war wie ein Familienvater, habe Miete gezahlt, mich um meine Geschwister gekümmert.
Sind Sie traurig darüber, dass Sie keine richtige Kindheit hatten?
Diese Frage hat mir noch nie jemand gestellt. Ja, ich wollte einfach nur ein Kind sein. Ich wollte mit den anderen Kindern Fußball spielen, laufen, Spaß haben. Wenn ich sehe, wie Schulklassen Ausflüge machen, dann denke ich daran, dass ich das nie hatte. Ich lache gerne. Vielleicht hole ich das nach, indem ich mich manchmal etwas kindisch verhalte. Ich mag es, Spaß zu haben – wahrscheinlich, weil er in meinem Leben immer gefehlt hat.
Sie haben schon immer viel für andere getan. Tun Sie auch manchmal etwas nur für sich?
Nicht viel. Aber ich will irgendwann Kommunikationswissenschaft studieren. Das mache ich dann nur für mich – einfach, weil es mich interessiert. Und dann mache ich es nur für Ammar. Nicht für meine Familie, nicht fürs Boxen, sondern einfach nur für Ammar.
Mit dem Boxen haben Sie auch angefangen, weil es der Traum Ihres Vaters war.
Mein Vater wollte immer, dass wir erfolgreich werden. Er hat das Boxen geliebt. Naseem Hamed, Muhammad Ali, Mike Tyson hat er bewundert. Er hatte nie die Chance, selbst zu boxen und hat mir vorgeschlagen, es auszuprobieren.
Hat es Ihnen sofort Spaß gemacht?
Nein, ich habe es gar nicht verstanden. Handschuhe anziehen und in einen Sandsack schlagen? Ich kannte es nur, zu arbeiten. Aber ich habe viel gelernt: Herausforderung, Disziplin, Respekt. Ich habe gelernt, dass Boxen nicht nur Schlagen bedeutet. Und ab dann habe ich es geliebt.
Sie haben also erst hier in Hamburg damit angefangen?
Ja. Bis 2018 war ich nicht so erfolgreich, weil ich die deutsche Staatsbürgerschaft nicht hatte. Ich konnte an internationalen Kämpfen nicht teilnehmen. Trotzdem war das Boxen ein Teil von mir.
Was ist es genau, was Ihnen daran gefällt?
Es ist echt eine Art Sucht. Ich will Weltmeister werden und dafür tue ich jeden Tag alles. Es ist Liebe ohne Grund.
War der Sport auch eine Möglichkeit für Sie, in Deutschland anzukommen und Kontakte zu knüpfen?
Ich war 15, als ich nach Deutschland gekommen bin. Ich bin zur Schule gegangen und die ersten zwei Jahre war ich sehr einsam. Ich konnte die anderen nicht verstehen, alles war anders. Ich hatte Heimweh. Aber als Kind lernt man schnell. Ich habe auch gelernt, was Freiheit bedeutet. Mit 17 habe ich das erste Mal ein Mädchen kennengelernt. Ich hatte kein eigenes Handy, also habe ich das von meiner Mutter genommen, damit ich sie anrufen kann. Durch das Boxen habe ich Freunde gefunden, die Mentalität kennengelernt. Meine Wurzeln sitzen hier tief.
Haben Sie selbst damit gerechnet, dass Sie irgendwann vom Boxen würden leben können?
Ich war überzeugt, dass ich es schaffen werde. Ich habe immer zu hundert Prozent an mich geglaubt. Und das tue ich heute auch noch.
Kommt das daher, dass Sie schon Ihr ganzes Leben lang kämpfen?
Was mich ausmacht, ist nicht meine Technik beim Boxen. Ich bin kein guter Boxer. Ich bin ein guter Kämpfer. Ich habe immer gekämpft – im Leben und im Ring. Ich weiß, was es bedeutet, wenn es richtig hart wird. Wenn es keinen Ausweg gibt. Du kannst boxen wie Muhammad Ali, aber wenn du in deinem Kopf nicht klar bist, kannst du trotzdem verlieren.
Sie haben es dieses Jahr bei den Olympischen Spielen in Tokio bis ins Viertelfinale geschafft. Wie hat sich das angefühlt?
Es war ein unbeschreibliches Gefühl. Ich habe viel gelernt, neue Menschen getroffen und gemerkt, wie Sport verbinden kann. Ich war enttäuscht, schon im Viertelfinale auszuscheiden, aber Olympia ist das Höchste, was jeder Sportler erreichen kann. Mehr gibt es nicht. Die Leute haben immer gedacht, ich bin nur ein Hobbyboxer. Ich war ein Außenseiter. Viele, die sich schon seit Jahren vorbereiten, haben es nicht geschafft.
Sind Sie stolz auf sich?
Sehr. Ich weiß jetzt, dass ich alles packen kann. Der Weltmeistertitel ist nur eine Sache von vielen. Ich bin gesund, jung und diszipliniert. Warum sollte ich etwas nicht schaffen?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe