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Hamburg will Gefangene exportierenWeniger Knast wäre mehr

Kommentar von

Robert Matthies

Hamburgs Gefängnisse sind voll, jetzt sollen Häftlinge nach Meck-Pomm. Dabei ist weniger Haft günstiger und sicherer, zeigen Norwegen und die Niederlande.

Voll, teuer und für viele der völlig falsche Ort: Haftanstalt, hier „Santa Fu“ in Hamburg-Fuhlsbüttel Foto: Christian Charisius/dpa

H amburgs Justizvollzugsanstalten arbeiten an der Kapazitätsgrenze. Ende September waren von 2.239 Haftplätzen 2.176 belegt – das ist eine Auslastung von 97,2 Prozent. Die Zahlen gehen aus der Antwort des Senats auf eine Anfrage des Abgeordneten Richard Seelmaecker (CDU) aus dem Oktober hervor.

Vier der sechs Einrichtungen im Stadtstaat sind überbelegt. In der Untersuchungshaftanstalt Holstenglacis drängen sich 510 Männer auf 462 Plätzen. Dort sind 43 Zellen doppelt belegt. Das Zentralkrankenhaus für Untergebrachte ist voll, 20 Patienten wurden in die U-Haft verlegt. Ex­per­t:in­nen fordern eine Reserve von zehn Prozent für unvorhergesehene Belastungen. Dieser Standard wird seit der Coronapandemie systematisch unterschritten.

Justizsenatorin Anna Gallina (Grüne) setzt nach Informationen des Hamburger Abendblatts nun auf Verhandlungen mit Mecklenburg-Vorpommern über die Verlegung Hamburger Gefangener. Dort sind die Gefängnisse nur zu 79,6 Prozent ausgelastet. Die Gespräche laufen, ob es zu einem Abkommen kommt, ist offen.

Kurzfristig ist das nachvollziehbar, aber die Verlegung von Inhaftierten kaschiert ein doppeltes Versagen: einmal bei der Planung von Kapazitäten, aber auch eines des Gefängniswesens selbst.

Hamburg hat fast alles in der Hand, um ein skandinavisch-niederländisches Modell umzusetzen

Denn aus kriminologischer Sicht ist der Strafvollzug ein teures und ineffizientes Relikt. Studien belegen immer wieder, dass ein Freiheitsentzug die Rückfallwahrscheinlichkeit um bis zu 20 Prozent gegenüber nicht-freiheitsentziehenden Sanktionen erhöht. Er zerstört soziale Netzwerke, verschärft psychische Belastungen und reproduziert Abweichung.

Eine Verlegung nach Mecklenburg-Vorpommern würde genau jene Bindungen noch weiter brechen, die eine Resozialisierung möglich machen: zu Familie, Anwält:innen, Therapeut:innen. Eine räumliche Distanz steht nachweislich mit höheren Rückfallraten in Verbindung.

Ein besonders absurder Belastungsfaktor für die Gefängnisse sind Ersatzfreiheitsstrafen wegen unbezahlter Geldstrafen. Zwischen November 2024 und Mai 2025 setzte die Justizbehörde die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafen aus – 517 Verurteilte mussten ihre Haft nicht antreten. Seit Juni 2025 wurden nur 34 Fälle vollstreckt. Selbst wenn Ersatzfreiheitsstrafen nur vier bis fünf Prozent der Belegung ausmachen, sind sie der einfachste sofort lösbare Hebel – die Aussetzung hat das ohne Sicherheitsverlust bewiesen.

Das ist ein klassisches Beispiel für die Kriminalisierung von Armut – eingeführt haben den Strafgesetz-Paragrafen 265a die Nazis 1935: Wer keine 1.000 Euro Bußgeld zahlen kann, erhält 100 Tage Haft – Kosten pro Tag für die Stadt: etwa 220 Euro.

Langfristig günstiger

Dass es auch ganz anders geht, zeigen Beispiele aus Norwegen und den Niederlanden. In Norwegen gibt es keine Ersatzfreiheitsstrafen. Unbezahlte Geldstrafen werden in Ratenzahlung, Lohnpfändung oder – bei nachgewiesener Zahlungsunfähigkeit – in gemeinnützige Arbeit umgewandelt. Im Ergebnis liegt die Haftquote dort bei 54 pro 100.000 Einwohner – in Deutschland sind es 76. Die Rückfallquote nach zwei Jahren liegt bei 20 Prozent gegenüber 46 Prozent in Deutschland.

Als eine Musteranstalt gilt die Haftanstalt Halden, Norwegens zweitgrößtes Gefängnis. Sie hat Einzelzellen mit Bad und Küche, bietet Arbeits- und Bildungsangebote und ein Personal-Gefangenen-Verhältnis von 1 zu 1,3. Ein Platz dort kostet den Staat 120.000 Euro pro Jahr, mehr als in Deutschland. Langfristig ist es aber durch geringere Rückfallkosten günstiger, wenn man 50.000 Euro pro Rückfall ansetzt.

Zudem investiert Norwegen viel in Prävention: Bei Schulabbruch wird früh interveniert, es gibt flächendeckend Suchttherapien und Wohnungsprogramme für Ex-Häftlinge. Elektronische Fußfesseln ersetzen Kurzstrafen bis sechs Monate. 2010 reduzierte die Justizreform die Haftplätze um 15 Prozent – die Kriminalität stieg nicht an.

Weniger Knäste, weniger Kriminalität

Auch die Niederlande zeigen, wie man erfolgreich Haftzahlen senkt, ohne dass die Sicherheit darunter leidet. Seit 2005 wurden 33 von 65 Gefängnissen geschlossen; die Haftquote fiel von 111 (2005) auf 57 pro 100.000 Einwohner im Jahr 2024.

Ersatzfreiheitsstrafen wurden 2011 abgeschafft. Unbezahlte Geldstrafen führen zu Lohnpfändung, Ratenzahlung oder gemeinnütziger Arbeit. Im Ergebnis gibt es keine Haft wegen Zahlungsunfähigkeit. Seit 2000 ersetzt elektronische Überwachung Strafen bis sechs Monate. 2023 war die Rückfallquote dabei zehn Prozent niedriger als bei Haft. Kurzstrafen werden in den Niederlanden vermieden: Strafen unter drei Monate gibt es nur bei Gewaltdelikten. Stattdessen setzt man auf Täter-Opfer-Ausgleich oder Verhaltensauflagen.

Auch die Niederlande setzen konsequent auf Prävention statt Repression. Zentral sind die Veiligheidshuizen – regionale Zentren, in denen Polizei, Sozialarbeit und Psychiatrie zusammen Risiken wie Schulabbruch, Sucht oder häusliche Gewalt früh erkennen und gemeinsam lösen. Die Prävention kostet rund 1,2 Milliarden Euro pro Jahr, spart aber laut dem Netherlands Bureau for Economic Policy Analysis 2,5 Milliarden Euro durch deutlich geringere Haftkosten.

Rund 60 Prozent aller Freiheitsstrafen werden in den Niederlanden offen oder halboffen vollzogen – bei geeigneten Tä­te­r:in­nen mit niedriger Flucht- und Rückfallgefahr. In der Anstalt Heerhugowaard arbeiten die Insassen tagsüber draußen und leben abends in Wohngruppen – mit einer Rückfallquote von nur 25 Prozent. Die Kriminalitätsrate ist seit Jahren rückläufig.

Konzept statt Ausweichmanöver

Die Verlegung von Hamburger Haftplätzen ist ein pragmatisches Ausweichmanöver, kein Konzept. Sie setzt ein System fort, das Strafe als Selbstzweck versteht, statt Kriminalität zu verhindern.

Hamburg hat fast alles in der Hand, um ein skandinavisch-niederländisches Modell umzusetzen. Der Bund müsste nur bei der endgültigen Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe nachziehen. Aktuell setzt sich die Linke mit einem Gesetzentwurf dafür ein. Am Donnerstag vergangener Woche wurde er im Bundestag debattiert und an die Ausschüsse verwiesen.

In Hamburg könnte die Landesjustizverwaltung per Erlass anweisen, Ersatzfreiheitsstrafen flächendeckend auszusetzen. Hamburg könnte jede Geldstrafe, die nicht bezahlt werden kann, sofort in gemeinnützige Arbeit umwandeln und per Landesvollzugsgesetz festlegen, dass Strafen bis zwei Jahre grundsätzlich offen vollzogen werden. Und Hamburg könnte Fußfesseln als Ersatz für eine Haftstrafe deutlich häufiger einsetzen.

Justizsenatorin Gallina hat also die Gelegenheit, den Strafvollzug als Teil sozialer Infrastruktur zu reformieren. Die Verlegung von Häftlingen ist nur ein Aufschub.

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Redakteur taz nord
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