: Halt im Rückgriff auf die Moderne
Im Sommer gibt es interessante Retrospektiven zu sehen: Drei Vorreiter der Street Photography aus den USA in Köln, eine immersive Ausstellung über Wim Wenders in Bonn und Neoconcretismo der brasilianischen Künstlerin Lygia Clark in Berlin

Von Jana Janika Bach
Langsam löst sich die US-Kulturindustrie aus ihrer Schockstarre. So feierte die „Met Gala“ trotz „Woke-Warnung“ und Antidiversitätsfeldzug jüngst medienwirksam (und nicht ganz uneigennützig) Schwarze Mode. Am Broadway proklamiert indes die Hispanic Society of America „Out of the Closets! Into the Streets!“ und zeigt (bis 31. 8.) in der Ausstellung passend zum Slogan der frühen LGBTQ+-Demos anhand von Fotos, wie einfallsreich die erste Pride-Generation durch die Straßen zog.
Und was erwartet das Kunstpublikum diesseits des großen Teichs? Hier sucht man anscheinend Halt im Rückgriff, etwa auf gemeinsame Werte einer Moderne, wie es angesichts diverser anstehender Retrospektiven den Eindruck macht. Von Yoko Onos breitbandigem Werk im Berliner Gropius Bau bis zur Wiederentdeckung des Malers Auguste Herbin im Münchner Lenbachhaus reicht die Palette; Wolfgang Tillmans, gefragt wie nie, bespielt das Pariser Centre Pompidou, das Museum of Cycladic Art in Athen präsentiert Aquarelle von Marlene Dumas und die Kunsthalle Praha eine Rückschau aufs Œuvre des Künstlerpaars Anna-Eva Bergman und Hans Hartung.
Dabei offenbart sich das genuin Politische meist erst auf den zweiten Blick – wie im Museum Ludwig in Köln, das in diesem Sommer (bis zum 12. 10.) drei Vorreiter der Street Photography würdigt. Garry Winogrand etwa war ein rastloser Flaneur, der als Junge die raue Bronx durchstreifte. Winogrand hatte ein instinktives Gespür fürs Kompositorische und Szenen wie „Circle Line Statue of Liberty Ferry“ (New York, 1971).
Auge für das Profane
Auf dem Foto beugen sich ringsum Passagiere über die Reling. Bis auf ein Paar, das wirkt, als habe man es für eine Modestrecke platziert; er im Anzug, lässig angelehnt, sie in Ballerinas. Keiner auf dem Boot erkennt den Fotografen als solchen bis zu dem Moment, da er blitzschnell seine Leica zückt und abdrückt. Fürs Nachjustieren nahm sich Winogrand, manisch produktiv, keine Zeit und etwaige Unschärfen in Kauf. Ihm galt, wie dem Nouvelle-Vague-Gründer Jean-Luc Godard, per Zufall Generiertes als Ideal. Als Winogrand 1984 starb, hinterließ er allein 2.500 unentwickelte Filme, eine Art Enzyklopädie seines Amerikas.
Zur gleichen Generation der „New Social Documents“ oder „New Topographics“ gehört der mittlerweile 90-jährige US-Amerikaner Lee Friedlander, der sich allerdings anderes zum Sujet erkor. Wie niemand sonst hatte er ein Auge für das Profane, durch seine ironisierende Linse zur Kunst erhoben. Zum Signet wurde sein eigener Schatten, der sich nicht selten in Form seines Kopfes abzeichnete, zum Beispiel 1966 in New York auf dem Pelzmantel einer Dame. Ikonische Bilder, die in der Kölner Schau um eine jüngere Position mit Aufnahmen aus Joseph Rodríguez’ „Taxi-Serie“ ergänzt werden. Als kleine Bravourstücke des Storytellings reichen sie in bester sozialdokumentarischer Tradition über den Augenblick hinaus.
Ehrung zum Achtzigsten
Auch für Wim Wenders war die Stadt seit eh und je mehr als bloß Kulisse für seine Geschichten. Staunend näherte er sich ihr mit seiner Kamera, wie im Kultfilm „Der Himmel über Berlin“ von 1987, um Mensch (oder Schutzengel) wahrhaftig zu begreifen. Gewonnene Erkenntnisse übersetzte der Autorenfilmer in eine einzigartige Bildsprache – von seinen Dramen, zuletzt „Perfect Days“, bis zu seinen Dokumentarfilmen über Papst Franziskus, Anselm Kiefer oder Pina Bausch.
Ungebrochen scheint Wenders’ Schaffensdrang, seitdem er vor zehn Jahren den Goldenen Bären fürs Lebenswerk bei der Berlinale verliehen bekam. Jetzt darf der Gratulationsreigen von Neuem beginnen – den Anfang macht die Bundeskunsthalle in Bonn, die den deutschen Weltstar und Regisseur zum 80. Geburtstag mit einer großen immersiven Ausstellung ehrt, die Fotos und Filme mit frühen Collagen, archivalischen Inserts, Requisiten, Kostümen und mehr vereint (1. 8. – 11. 1. 26).
In dieser Ausgabe des taz themas kulturrausch blicken wir darauf, was es in der Kulturwelt im Sommer an sehenswerten Kunstausstellungen, Straßentheater-Aufführungen und Festivals abenteuerlicher Musik gibt. Zudem geben wir Einblick in die weite Welt des Flamenco, berichten über Zwischennutzungen und porträtieren einen besonders schamlosen Künstler.
Körperliche Therapie
Lygia Clark wiederum hat etwas von der jungen „Jackie“ Kennedy, wie sie da auf dem Hocker sitzt, eine grazile Gestalt, die Arme verschränkt, die Beine gekreuzt. Und tatsächlich trennen Clark, geboren 1920 in Belo Horizonte im Südosten Brasiliens, und die einstige First Lady gerade einmal acht Jahre. Doch gilt es, in Bezug auf die brasilianische Malerin und Bildhauerin, die in eine aristokratische Familie hineingeboren wurde, nicht voreilig Schlüsse zu ziehen. Clark, die mit Hélio Oiticica befreundet war und während der Militärdiktatur ins Exil ging, schuf ein epochales Werk, das die Kunst radikal erweiterte. Von frühen monochromen Gemälden über interaktive Objekte fand die Mitbegründerin des brasilianischen Neoconcretismo zu einem experimentellen, betont körperlichen Therapieansatz.
Berühmt wurde Clark zunächst für ihre „Bichos“, übersetzt „Getier“ oder „Ding“, klapp- und faltbare Metallgetüme. Aber auch ihre schrägen Masken, Brillen und Anzüge sollten sinnlich anregen, aufgesetzt und getragen werden. Eben dazu lädt die Neue Nationalgalerie in Berlin nun (bis 12. 10.) ein, die mit 120 Werken aus allen Schaffenszyklen der Ausnahmekünstlerin zur aktiven Teilnahme auffordert. Ob in Mies van der Rohes kühlem Bau ebenso Clarks hypnotischen Performances wie „Baba Antropofágica“, bei der ein Proband mit speichelgetränktem Garn in einen Kokon eingesponnen wird, zur Aufführung kommen, darf zu hoffen sein.
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