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Archiv-Artikel

Hallo, Mutter, ist Weihnachten?

Heiligabend, Stichtag der Angst. Zwei Spätheimkehrerinnen am Nebentisch berichten

„Du musst mal am Bahnhof kucken, wer da alles nach Hause fährt“

„Also MUTTER ist ja ein ganz saudummes Wort. Ich meine, allein schon so als Wort.“ Die Frau am Nebentisch sagte das sehr entschieden, ihre Zuhörerin nickte heftig, und ich wurde wach. „Wie das schon klingt: MUTTA!“, fuhr die Sprecherin fort. „Wie Mutant und Mutterboden. Ich denke immer an ‚Psycho‘ von Hitchcock, wie Anthony Perkins mit dumpfer Stimme sagt: ‚Hallo, Mutter. Ich bin es, Mutter.‘ Und jetzt muss ich da wieder hinfahren.“

Die Sprecherin hatte Leben in der Stimme, ein bisschen Rage und einen Anflug von Müdigkeit. Normalerweise schätze ich es nicht, im Café mit den Gesprächen fremder Menschen behelligt zu werden, aber diesmal war es mir ganz recht.

Ich hatte Kaffee getrunken und Zeitung gelesen: Ein paar Lobbyisten erklärten Rudi Dutschke salbungsvoll zu ihrem ganz persönlichen Jesus und gefielen sich darin, eine Straße nach ihm benennen zu wollen. Befeuert von aktionistischer Seligkeit trompeteten sie die flachsinnige Idee in die Welt und machten eine ganze Zeitung damit voll. Ob es an Weihnachten lag? Kitsch hat ja immer Konjunktur, aber wenn Heiligabend und das Christkind vor der Tür stehen, kommt der Terror in besonders dicken Happen. Ich hatte mal die Archivaufnahme einer Dutschke-Rede gehört und weiß seitdem, was Brei auf Stelzen ist.

Den beiden Frauen am Nebentisch war der Studentenführer egal, sie drängte Persönlicheres. „Ich kann’s auch nicht ab!“, stöhnte die zweite Frau auf. Bisher hatte sie nur zugehört und mit weiblicher Ermunterungsmimik den Redefluss ihrer Freundin am Leben erhalten. Nun aber sturzbachte es auch aus ihr heraus. „Wenn mein Bruder ‚Mutti‘ sagt, muss ich brechen. Wie der das ausspricht – mit weichem d! ‚Naaa, Muddi‘, sagt der dann. Gah! Ein erwachsener Mann von über vierzig ein ‚Mutti‘-Sager! Und dann ist auch noch Weihnachten und man kann nicht mal abhauen.“

Verstohlen betrachtete ich die beiden Frauen. Sie waren selbst unzweifelhaft erwachsen, ich schätzte sie auf Anfang bis Mitte dreißig. Beide verfügten sichtlich über Schönheit und Energie, aber es war auch Angst im Spiel. „Noch zwei Kaffee, bitte!“, sagte die kurz zuvor noch von ihrem Mutti-Bruder entsetzensgepeitschte Frau zum Kellner. Der bot mechanisch allerlei italienisch Klingendes an.

„Nein, ganz normalen Kaffee“, entgegnete ihm die Frau. „Keinen Schaumscheiß bitte.“ Ich folgte ihrem Beispiel, bestellte und bekam Kaffee und tat, als läse ich weiter Zeitung – die beiden Frauen sollten sich ganz unbeobachtet fühlen und schön weitersprechen.

Weil sie aber gerade Kaffee schlürften und Sprechpause hatten, heftete ich meine Augen wie hochkonzentriert ins Blatt – das mir nun damit kam, die Zeitung an sich sei etwas unglaublich Dolles, Rares und Erhaltungswürdiges und per se ein Ort der Kultur und des Geistes und überhaupt. Nicht schlecht, dachte ich. Die Zeitung thematisiert sich selbst, haut sich kräftig auf die eigene Schulter und verkauft das als Nachricht, während andere ihre Reklameartikel ja verschenken müssen. Ich überlegte, bei welchen Freunden des Überflüssigen der Trick wohl zöge – mein eigener Bedarf an Zeitung war drastisch geschrumpft, seitdem ich keine Ofenheizung mehr hatte.

Endlich rissen mich die Frauen am Nebentisch in die Wirklichkeit zurück; verglichen mit Zeitunglesen ist noch das kleinste Fitzelchen Leben sensationell. Die Frau, die so lustig tönern „Hallo, Mutter“ sagen konnte, hatte die Sprache wiedergefunden. „Die letzten Tage vor Weihnachten sind der reine Exodus“, hob sie an. „Du musst mal am Bahnhof kucken, was da alles nach Hause fährt. Und wie die aussehen – wie eine besiegte Armee. Hundeaugen, hängende Schultern, gebeugt, gebückt, zerdrückt – das ist die Weihnachtsfreude.“ Sie lachte, hell und grimmig. „Und ich mache das auch! Weihnachten zu Hause! Drei Tage Gesichter wie eingeschlafene Füße – all diese leeren, sexlosen Gestalten. Wenn man sich wenigstens auf Vorrat mit Sex voll hauen könnte! Und ausgerechnet jetzt“ – ihre Stimme nahm Wut an – „habe ich Schluss mit meinem Freund gemacht! Ganz schlechtes Timing.“

Ihre Freundin kicherte. „Weißt du was?“, sagte sie. „Ich auch. Bei mir ist auch gerade Finito. Ich wollte das einfach noch im alten Jahr erledigt haben. Und jetzt müssen wir beide“ – ihr Kichern verstärkte sich – „jetzt müssen wir beide an Weihnachten ungefickt zu Mutter fahrn!“

Die beiden prusteten los und wiederholten es immer wieder: „Wir müssen mit der Eisenbahn / ungefickt zu Mutter fahrn!“ Auch ich lachte nun mit – woraufhin die beiden schlagartig verstummten, und dann wurden wir alle drei rot, so rot wie eine Weihnachtsmannmütze.WIGLAF DROSTE