robin alexander über Schicksal: Halbmondshirtmädchen
Misslungene Integration schmerzt vor allem am Knöchel – und das nicht erst, seit Türken in Deutschland leben
„Du bekloppter Türke!“ Menschen, die Schmerz empfinden, neigen dazu, sich klar auszudrücken. Ich war elf, spielte in der Fußballmannschaft unserer Grundschule um die Stadtmeisterschaft, hatte gerade noch den Ball und jetzt einen anschwellenden, rechten Knöchel. Mein Gegenspieler hieß vielleicht Ramazan, Ilias oder Eihahn. „Ihr Türken seid doch bekloppt“, sagte auch der Schiedsrichter, als er ihm die rote Karte zeigte. „Meine Türken sind halt bekloppt“, entschuldigte sich der als Trainer fungierende Sportlehrer der gegnerischen Schule bei mir, während ein Rotkreuzler meinen Knöchel am Spielfeldrand bandagierte.
Fußball trug damals nicht wirklich zur Integration bei: Zu groß und kräftig waren die vielen türkischen Sitzenbleiber, beherrschten den Ball wie ein Körperteil, weil sie eh den ganzen Tag nichts anderes taten, und niemand hatte ihnen jemals auch nur die allerleiseste Ahnung vom Wort Fairness vermittelt. Die Türkenschulen haben jedes Jahr den Pokal gewonnen.
Wir waren keine Türkenschule, weil bei uns nur ein Viertel der Schüler Türken waren. Von denen habe ich einiges gelernt: zum Beispiel, dass götlek (Arschloch) und serseri (Esel) keine echten Schimpfwörter sind, sondern in jedem harmlosen Gespräch vorkommen. Wenn jemand aber anani sekerim (fick deine Mutter) sagt, erwartet er, dass man versucht, ihm ein Loch in den Schädel zu schlagen.
Auf dem Gymnasium war dann Schluss mit dem kulturellen Austausch. Nur ein einziger Türke hatte den Weg zum Abitur eingeschlagen. Serkan, ein kluger Junge, der versuchte, seine Isolation durch Aufklärung aufzubrechen – mit mäßigem Erfolg. Wir lernten, dass Serkans Name persischen Ursprungs sei und die Bedeutung in Richtung „Oberhaupt“ gehe. Darauf war Serkan besonders stolz, denn er war mitnichten der Erstgeborene, sondern das vierte Kind seiner Familie. Die schönste von Serkans Schwestern hieß Songül, zu Deutsch „Junges Blut“. Heute denke ich, ein Name zum Verlieben, damals fanden wir die türkischen Namen – ob sie uns erklärt wurden oder nicht – vor allem komisch.
Deutsche und türkische Schüler rückten eigentlich nur zusammen, wenn ein gemeinsamer Feind auftauchte. Nach 1990 ging Serkans Lieblingswitz so:
– Was ist der Unterschied zwischen einem Türken und einem Sachsen?
– Der Türke kann Deutsch und hat Arbeit.
Unübersichtlich wurde es, als Serkan neben der gelösten deutschen Frage die offene kurdische Frage entdeckte. Es stellte sich plötzlich heraus: Unser Türke Serkan war gar keiner! Sondern Kurde. Dieser Unterschied war ihm sehr wichtig. Als er auf dem Schulhof wieder einmal angeblafft wurde: „Scheiß Türke!“, blaffte er zurück: „Ich bin Kurde!“
An unserer Schule gab es kein fröhliches Miteinander, multikulturell-moralische Ermunterungen von engagierten Lehrern blieben fruchtlos. Statt moralischer Appelle hätten sie uns besser etwas aus der Lokalgeschichte erzählen sollen. Die Zechenkolonien, die heute fest in türkischer Hand sind, hießen schon in den Zwanzigerjahren im Rest der Stadt „Negerdörfer“. Dort lebten damals Arbeitslose, die nicht in die Kirche gingen und kommunistisch wählten. Lange bevor die Türken kamen, gab es also in Deutschland Kanaken. Ihre Kinder sprachen grammatikalisch schwaches Deutsch, kamen nie auf das Gymnasium und hatten keinen Begriff von Fairness. Wahrscheinlich haben ihre Kinder auch immer beim Fußball gewonnen.
Ob die sozialen Mauern höher als die kulturellen sind? Zusammen scheinen sie jedenfalls unüberwindlich.
Bei der Fußball-Weltmeisterschaft habe ich leise für die Türken gejubelt. Weil mir die Halbmondshirtmädchen auf den Motorhauben in den Autokorsos gefielen. Und weil der Spielmacher der Türken, Yilderay Bastürk, in der gleichen Stadt wie ich aufgewachsen ist. Wie oft er wohl den Stadtpokal der Grundschulen gewonnen hat? Im Schaufenster schräg gegenüber meiner Wohnung hängt seit der WM ein schwarzrotgoldenes Poster. In der Mitte des roten Balkens prangt sehr groß der türkische Halbmond, darunter steht in beiden Sprachen: „Hebesimiz final –Es gibt ein Finale, von dem wir träumen“. Sehr schade, dass die Türkei gegen Brasilien ausschied. Ich habe das Spiel gesehen und mich neunzig Minuten gefragt: Warum verschont Bastürk bloß den Knöchel von Ronaldo?
Fragen zu Schicksal?kolumne@taz.de
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