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Archiv-Artikel

Halbe Leben

Bilder der Klassengesellschaft bot die Duisburger Dokumentarfilmwoche: Auf der einen Seite des sozialen Grabens beschäftigt man sich mit Selbstfindung, auf der anderen Seite warten 1-Euro-Jobs

In der Mittelklasse ist die verlängerte Pubertät weit verbreitet, bei Migranten wirkt sie sich immer noch fatal aus

VON STEFAN REINECKE

Wenig bekannte Namen, viele Regisseure in den Dreißigern – so kann man die Duisburger Dokumentarfilmwoche 2008 knapp charakterisieren. Das Festival verjüngt sich. Es ist vielleicht typisch, dass eine Situation in manchen Filmen wie ein Leitmotiv wiederkehrte: das Ende der Jugend, der Beginn der Karriere. In dem Transitraum zwischen Pubertät und Erwachsensein spielen sich Tragödien und Komödien ab. Manche enden im sozialen Abseits, andere in Selbsterfahrungsgruppen. Wer welche Chancen hat, ist vor allem eine Klassenfrage.

Kein Geld, kein Job, keine Freundin, so lautet die Zwischenbilanz des 34-jährigen Österreichers Marko Doringer. „Mein halbes Leben“ ist eine subjektive Selbsterforschung, die in ihren besten Momenten an Woody Allen erinnert. Der dröhnend larmoyante Regisseur macht sich von Berlin in seine Heimat auf, um zu erkunden, wie seine Exfreunde mit dem Ende von Jugend, Freiheit und Unverbindlichkeit klarkommen. Einer ist Workaholic geworden, er scheffelt Geld, während die Frau daheim das Kind hütet. Ein anderer ist Sportreporter, der davon träumt, Schriftsteller zu werden – oder soll er vielleicht doch lieber mit der Freundin bei den eigenen Eltern einziehen? Doringer filmt auch seine eigenen Therapiestunden, in denen seine Unfähigkeit, erwachsen zu werden, als Produkt seiner gestörten Vaterbeziehung analysiert wird. Die Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ lautet wie meist: ohne Unterlass darüber zu reden, wer man ist. Erträglich ist diese Selbstbespiegelung, weil der Narzissmus dieses Autors ironisch gebrochen wird.

„Mein halbes Leben“ wirkt in seinen Unbeholfenheiten amüsant – allerdings ist gerade dieser Gestus hochartifiziell. Dies ist keine radikale, authentische Selbstbefragung, sondern geschickte Inszenierung. Dieses Porträt eines jungen Mannes als Schlaffi ist eine Fiktion, ein triviales Echo des bürgerlichen Bildungsromans. Am Ende wird alles gut.

Ali ist Mitte zwanzig und sieht ein bisschen aus wie Bruce Springsteen. Er hatte es, wie in Bettina Brauns vor fünf Jahren gedrehter Dokumentation „Was lebst du“ zu sehen war, mal zu einer Hauptrolle in einem Jugendmusical gebracht. Rapper oder Musiker zu werden, das war der Traum. Jetzt arbeitet er als Leiharbeiter bei Ford. Neun Stunden am Tag, 1.000 Euro im Monat, Zukunft ungewiss. In einer Werkshalle sortiert er Autoteile für das Band. Tänzelnd hastet er einmal zwischen Stahlregalen hin und her, ein Assoziations- und Gedankenstrom bricht aus ihm heraus, dann imitiert er sarkastisch und verspielt einen Roboter. Diese Szene in „Was bist du“, die wie ein Echo von Chaplins „Modern Times“ wirkt, ist vielleicht die schönste des Festivals: eine Miniatur über Zwang und Freiheit.

In „Was bist du“ (zu sehen am 3. März auf arte) hat Bettina Braun jene vier Kölner Migrantenjugendlichen, die zwischen Auflehnung, Selbstverwirklichungsträumen und streng religiösen Elternhäusern pendeln, noch einmal beobachtet. Entstanden ist ein dichtes, dreiviertelstündiges Porträt. Die Regisseurin ist ihren Figuren auf verblüffend selbstverständliche Art nahe. „Hallo Bettina“, murmelt Ali morgens am Frühstückstisch in die Kamera. Nie kippt der Film ins Sozialarbeiterische, nie in schwärmerische Begeisterung fürs Dissidentische.

Einer hat es auf eine Schauspielschule geschafft, allerdings wird seine Homophobie („Tanzen ist doch für Schwule“) in seinem Job kaum hilfreich sein. Einer jobbt in einem Café. Ali klimpert am Ende auf seiner Gitarre, schaut versonnen in die Kamera und sagt: „Ich habe mein Leben weggeworfen.“ Am Ende wird nicht alles gut.

In der oberen Mittelklasse ist die verlängerte Pubertät fast zum Massenphänomen geworden, bei Migrantenjugendlichen ist die Strafe für die pubertäre Auszeit hart: der Weg ins soziale Abseits. Eine ähnliche Bilanz gescheiterter Träume zieht auch „Ich geh jetzt rein“ von Aysun Bademsoy: ein Porträt von vitalen türkischen Kreuzbergerinnen, denen mit Mitte 20 und ohne rechte Ausbildung außer Kellnerinenjobs nicht viel bleibt. In der bürgerlichen Boheme eines Marko Doringer enden die Selbsterkundungen in Psychotherapien und spätem Karrierestart, in der Welt der Migrantenvorstädte in 1-Euro-Jobs und toter Zukunft. So sind die Regeln in der Klassengesellschaft.

Manches in Duisburg war verunglückt, was vielleicht eine Folge der Verjüngung ist. Peter Atanassow porträtiert in „Los Guerrilleros Colombianos“ ziemlich einfältig die kolumbianische Guerrilla ELN als wahre Menschenfreunde. Anna Wahle filmt in „Playgirl“ die Selbstinszenierungen einer jungen Kölner Türkin ab und versucht mit Fragen nach dem Sinn des Lebens, hinter deren Fassade zu blicken, erfolglos.

Ein eigenwilliger, kraftvoller Versuch über die Abgründe der Arbeitsgesellschaft ist Eva Stotz mit „Sollbruchstelle“ gelungen. „Ohne Lehrstelle und Studienplatz bin ich ein Nichts“, sagt dort eine junge Frau. Man sieht ein Bewerbungstraining, in dem geübt wird, sich gut zu fühlen, um sich besser verkaufen zu können. Das Leben, ein Test. In unterkühlten Arrangements sehen wir einen gefasst wirkenden grauhaarigen Manager, der von seiner Firma gemobbt wurde. Er klagte, bekam Recht, doch in der Firma blieb er ein Aussätziger.

„Sollbruchstelle“ macht eine Kreisbewegung um die Arbeit: Man sieht jene, die noch nicht im Arbeitsleben sind, und einen, der nicht mehr dort ist. Stotz zeigt zudem kleine, suggestive Beobachtungen: Menschen, die zur Arbeit hasten, im Auto warten, im Bus ins Leere blicken. Der kühle, soziologische Blick auf Ich-Inszenierungen erinnert an Harun Farockis „Leben BRD“. Im Zentrum allerdings steht das mit kräftigen Symbolen erzählte Drama des Managers, der arbeiten will, aber nicht darf und der am Ende zusammenbricht.

„Sollbruchstelle“ hat eine eigentümliche Mischung von unterdrückter Emotion und formstrengen Bildern. Der Manager, erfährt man im Abspann, ist der Vater der Regisseurin, der Film auch ein Versuch, seine Depression narrativ zu bannen. Der Schrecken, der symbolisiert und erzählt werden kann, ist nicht mehr namenlos.