■ Halb Deutschland trieb die Angst vor grünen Revoluzzern an der Macht um. Doch jetzt sind es die altehrwürdigen Sozialdemokraten, die für das große Steuerchaos sorgen, während der kleine Koalitionspartner weise Ratschläge erteilt.: Koalitio
Halb Deutschland trieb die Angst vor grünen Revoluzzern an der Macht um. Doch jetzt sind es die altehrwürdigen Sozialdemokraten, die für das große Steuerchaos sorgen, während der kleine Koalitionspartner weise Ratschläge erteilt.
Koalition paradox in Bonn
Es gibt Überschriften, denen man anmerkt, wieviel Spaß ihre Verfasser beim Texten gehabt haben müssen. „Grüne fordern von SPD Disziplin im Steuer-Streit“, schrieb gestern mittag die Nachrichtenagentur Reuters über eine entsprechende Meldung. Verkehrte Welt – ist das nicht klasse? Haben nicht alle immer geglaubt, auf die Grünen sei kein Verlaß und die alte Tante SPD werde noch ihre liebe Not mit den ungebärdigen Altrevolutionären haben? Und jetzt bekommen fast nur grüne Kabinettsmitglieder in den Medien gute Noten, geben artig überall das schöne Händchen und wirken entsprechend glaubwürdig, wenn sie staatstragend Disziplin beim Koalitionspartner anmahnen. Der übt sich unterdessen erfolgreich in der Kunst der öffentlichen Selbstzerfleischung.
Jede Regierung verdient Kritik, die ein derart verheerendes Erscheinungsbild präsentiert wie das Bonner Bündnis in der vergangenen Woche. Die Opposition verharrt jedoch in selbstgewählter Sprachlosigkeit. Sie muß für ihre neue Rolle auch noch kräftig üben. Da bleibt den Grünen ja gar nichts anderes übrig, als deren Part gleich mit zu übernehmen. Sie habe zunehmend den Eindruck, daß sich die SPD zu einer „Chaos-Truppe“ entwickele, sagte gestern Bundesgeschäftsführerin Heide Rühle. Parteichefin Gunda Röstel findet die Neuregelung der 620-Mark- Jobs nicht „der Weisheit letzter Schluß“. Fraktionssprecherin Kerstin Müller hat der SPD vorgeworfen, sich über ihre politische Linie nicht im klaren zu sein. Gut, daß sie alle mal drüber geredet haben.
Dennoch sollte irgend jemand bald den grünen SpitzenpolitikerInnen anvertrauen, daß ihre Partei jetzt mitregiert. Wenn deren Kritik an der SPD allzu überzeugend ausfällt, wird das auch auf Bündnis 90/Die Grünen abfärben. So ist das nun mal in Koalitionen. Die Einsicht könnte auch in den Reihen der SPD bahnbrechend wirken. Gewiß wird in diesen Tagen viel Wichtiges und Richtiges in Bonn gesagt. Mahnende Worte hat zum Beispiel Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) gefunden: „Wichtige Gesetzesvorhaben müssen auch in angemessener Zeit im Parlament diskutiert werden“, findet er. „Da darf man nicht alles übers Knie brechen.“ Die Erkenntnis ist ein Silberstrahl an einem derzeit sehr dunklen Horizont. Falls sie sich durchsetzt.
Ob die 620-Mark-Regelung verfassungskonform ist, die Ökosteuer nur eine neue Belastung oder doch einen Anreiz für den Arbeitsmarkt darstellt, sich mit dieser Steuerreform die gewünschten Ziele erreichen lassen, die Rente ab 60 eine Seifenblase oder der Durchbruch ist, wie Steuerausfälle finanziert werden können: All das wird innerhalb der Koalition ebenso heftig wie kontrovers diskutiert – oft, nachdem Beschlüsse bereits gefallen sind.
„Es ist alles auch ein organisatorisches Problem“, heißt es dazu aus Regierungskreisen. Noch seien die Zuständigkeiten nicht klar geregelt, nicht alle Posten besetzt, nicht einmal alle jeweils mit einer Angelegenheit befaßten Mitarbeiter einander persönlich bekannt. Der Informationsfluß zwischen Fraktionen und Exekutive gerät oft ins Stocken, von mangelnder Feinabstimmung zwischen Kanzleramt, den Ministerien und gar der Länderebene gar nicht zu reden. Nach 16 Jahren in der Opposition gibt es niemanden mehr, der auf der Klaviatur der Macht zu spielen vermag.
Das Zauberwort, das nun die Probleme lösen soll, heißt Kommunikation. Die ist, wie erschrockene Koalitionäre erkannt haben, „gestört“, weshalb die Grünen schleunigst den Koalitionsausschuß einberufen wollen. Das ist allerdings ein schwerfälliges Instrument, besteht er doch aus immerhin 16 Mitgliedern, acht pro Regierungspartei, und ist außerdem eigentlich für den Fall eines veritablen Krachs zwischen den Bündnispartnern gedacht. Von einem solchen Konflikt kann aber derzeit keine Rede sein. Alle kämpfen für die jeweils eigene Ansicht und um den eigenen Einflußbereich, vor allem bei den Sozialdemokraten. So weit, daß ganze Parteien miteinander streiten könnten, ist der Meinungsbildungsprozeß bei weitem noch nicht gediehen.
Vor diesem Hintergrund hat die rot-grüne Bundesregierung eigentlich allen Grund, dem nordrhein- westfälischen Ministerpräsidenten Wolfgang Clement dankbar zu sein. Nur weil der noch einmal all das aufgeschrieben hat, was er seit Jahr und Tag zum Thema Steuerreform sagt, kann die Koalition nun in wenigstens einer Frage ein schönes Bild der Geschlossenheit bieten. Die von Clement geforderte weitere Senkung der Steuersätze hält der SPD-Finanzexperte Joachim Poß für nicht finanzierbar. Die bündnisgrüne Fraktionschefin Kerstin Müller meint, im nachhinein am Steuerkonzept der Regierung „rumzumäkeln“ schade nur der Koalition. Die Bonner Einmütigkeit ist kleidsam. Aber auf die Dauer reicht es für die Imagepflege vermutlich nicht, wenn die SPD sich gegen die eigenen Ministerpräsidenten profiliert.
Wolfgang Clement hat seinen Brief an Finanzminister Lafontaine und an Bundeskanzler Schröder gerichtet. Letzterer ist derjenige, den das Grundgesetz mit der Richtlinienkompetenz ausgestattet hat. Bisher hat er davon wenig Gebrauch gemacht, sondern statt dessen im Zuge hektischer Schadensbegrenzung das Ansehen mehrerer Minister beschädigt. Nun will er es ruhiger angehen lassen: „Wir sind zu schnell gewesen.“ Wichtig wird in den nächsten Monaten aber nicht nur das Tempo sein. Sondern auch die noch immer offene Frage, wohin die Reise eigentlich gehen soll. Das SPD-Präsidium wollte gestern dazu keinen Aufschluß liefern. Eine Pressekonferenz wurde kurzfristig abgesagt. Bettina Gaus, Bonn
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