piwik no script img

Häußlers Fehler

Der Historiker Carlo Gentile wirft Bernhard Häußler schwere Ermittlungsfehler vor. Der Stuttgarter Oberstaatsanwalt hatte das Verfahren gegen die Beschuldigten des SS-Massakers in Sant'Anna di Stazzema 2012 eingestellt. Jetzt muss die Generalstaatsanwaltschaft entscheiden, ob es dabei bleibt

von Hermann G. Abmayr

Das Martin-Buber-Institut für Judaistik der Universität Köln liegt in einem unauffälligen Gebäude, das eher wie ein mehrstöckiges Mietshaus aussieht. Hier arbeitet Carlo Gentile (53), der mit seinem 82 Seiten starken Gutachten jetzt nicht nur bei der Staatsanwaltschaft in Stuttgart, sondern auch im Landesjustizministerium für Aufregung sorgt. Denn Minister Rainer Stickelberger (SPD) hat die Arbeit des umstrittenen Oberstaatsanwalts Bernhard Häußler (63) in den vergangenen Monaten mehrfach verteidigt.

Dazu kommt, dass Bernhard Häußler so gründlich ermittelt hat, dass ihm offenkundig entgangen ist, dass zwei der nach seinen Angaben acht noch lebenden Beschuldigten schon tot waren, als Häußler das Verfahren gegen sie und sechs weitere Personen Ende September 2012 eingestellt hatte. Dies bestätigte jetzt die Generalstaatsanwaltschaft gegenüber Kontext.

Gentiles Gutachten trägt den Titel „Historisches Gutachten in dem Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Stuttgart gegen Angehörige der 16. SS-Panzergrenadierdivision ,Reichsführer SS‘ wegen Mordes in Sant'Anna di Stazzema am 12. August 1944“. Er hat es verfasst im Auftrag von Enrico Pieri (78), einem der wenigen Überlebenden des Massakers in dem Gebirgsdorf in der Toskana. Mehrere hundert Menschen sind damals grausam ermordet worden. Darunter über 100 Kinder. Genaue Zahlen können nicht ermittelt werden.

Gentile hatte der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg schon vor etlichen Jahren einen Teil seiner Dokumente zur Verfügung gestellt. Er hoffte, damit die Ermittlungen über eines der schlimmsten Kriegsverbrechen, das Deutsche in Italien verübten, unterstützen zu können. Die Zentrale Stelle hat das Verfahren dann rasch an Oberstaatsanwalt Häußler abgegeben, der es nach zehn Ermittlungsjahren im Oktober 2012 in einer 150 Seiten umfassenden Verfügung einstellte. Begründung: Den Beschuldigten könne weder Mord noch Beihilfe zum Mord nachgewiesen werden.

Im Gegensatz zu den italienischen Richtern, die zehn SS-Männer 2005 in deren Abwesenheit schuldig gesprochen haben, ist die Staatsanwaltschaft Stuttgart der Auffassung, man könne nicht mit Sicherheit beweisen, dass das Massaker „eine von vornherein geplante und befohlene Vernichtungsaktion gegen die Zivilbevölkerung“ gewesen sei. Es bestehe „auch die Möglichkeit, dass das Ziel des Einsatzes ursprünglich die Bekämpfung von Partisanen und die Ergreifung arbeitsfähiger Männer zum Zwecke der Verschleppung nach Deutschland war“. Es sei möglich, dass die Erschießung erst dann befohlen worden sei, als klar war, dass die ursprünglich Absicht nicht erreicht werden konnte. Eine spontane Aktion aus Verärgerung also. Das wäre Totschlag und verjährt.

Carlo Gentile dagegen weist nach, dass die SS-Division in den sogenannten Bandengebieten – so bezeichneten die Nazis Gebiete, in denen sie Partisanen vermuteten – regelmäßig wehrlose Frauen, Kinder und Alte in grausamer Art und Weise tötete. Auch bei der Suche nach möglichen Zwangsarbeitern sei es immer wieder zu Massakern gekommen. Gentile führt dies unter anderem auf „das genuin nationalsozialistische Prinzip der Selektion zwischen Arbeitsfähigen und nicht Arbeitsfähigen und deren Vernichtung“ zurück.

Dieses Prinzip sei bei den Aktionen der 16. SS-Panzergrenadierdivision ,Reichsführer-SS‘ in Italien ähnlich zum Tragen gekommen wie in Osteuropa, wo sich Angehörige der Division zum Teil schon an der Bekämpfung der Partisanen und der Ermordung von Juden und Zivilisten beteiligt hatten. Zum Beispiel 1941 in Weißrussland oder 1943 in Warschau. So habe Divisionskommandeur Max Simon den SS-Sturmbannführer Helmut Looß – beide sind längst verstorben – in Italien zum Sicherungskommandanten ernannt, einen Mann mit einer 18-monatigen Erfahrungen bei der „Bandenbekämpfung“ im besetzten Osteuropa.

„Die Massaker folgten einer straffen militärischen Regie“

„Die Massaker waren durchorganisiert und folgten einer straffen militärischen Regie“, sagt Carlo Gentile in seinem Büro und blättert in seinen Papieren. Anders als die Gebirgsjäger, die beim Kampf gegen Partisanen in Italien ungleich weniger Menschen getötet hätten, habe die Waffen-SS eine große Blutspur hinterlassen.

Mit dieser Einschätzung ist der Kölner Historiker nicht allein. So verweist auch der Historiker Lutz Klinkhammer auf die Übernahme „östlicher“ Methoden.

Acht Angehörige der Einheit lebten nach Angaben von Oberstaatsanwalt Häußler im September des Vorjahres noch: Karl-Heinz Bartlewski, Alfred Baumgart, Werner Bruß, Alfred Concina, Karl Ewald Gropler, Ignaz Alois Lippert, Theodor Sasse und SS-Untersturmführer Gerhard Hermann Otto Sommer, der Führer der 7. Kompanie. Nur die zwei Jüngsten, Bartlewski und Lippert, seien einfache Mannschaftssoldaten gewesen. Karl-Heinz Bartlewski, Alfred Concina und Werner Bruß leben nicht mehr. Concina ist vor einem halben Jahr gestorben, die anderen beiden vor einem Jahr bzw. über einem Jahr.

Mindestens für einige der Beschuldigten, so Carlo Gentile, könne nachgewiesen werden, dass sie im Sommer 1944 schon beim Aufstieg zum Gebirgsdorf Sant'Anna di Stazzema wussten, was sie tun würden. Ihnen sei bekannt gewesen, wie man bei der angesagten „Bandenbekämpfung“ vorzugehen hat. Und zwar aus eigener Erfahrung. Baumgart und Bruß, so Gentile, hätten 1941 Einheiten des Kommandostabs „Reichsführer-SS“ angehört, Gropler seit 1942 der SS-Division „Totenkopf“ und Sommer seit 1940 der „Leibstandarte Adolf Hitler“.

Weitere Kritikpunkte des Kölner Historikers: Bernhard Häußler habe etliche Zeugenaussagen und Dokumente, die zum Verständnis des Kriegsverbrechens wichtig sind, nicht verwendet und das „Tatsachengeschehen“ in seiner Verfügung „ohne jede Rücksicht auf die Topografie“ beschrieben.

Wenig Sorgfalt im Umgang mit der historischen Wahrheit

An anderer Stelle wirft Gentile dem Oberstaatsanwalt „eine unklare Vorstellung von Partisanenbekämpfung und eine mangelnde Kenntnis militärischer Entscheidungsprozesse und Sachverhalte“ vor. Ganz abgesehen von der „mangelhaften wissenschaftliche Bearbeitung bei der Erhebung der historischen Daten“. Zudem habe Bernhard Häußler der italienischen Königsfamilie für 1943 eine „Flucht ins Ausland“ angedichtet und aus der italienischen Regierung eine „Exilregierung“ gemacht. Gentile: „Tatsächlich floh die Königsfamilie mit Teilen des Hofs, dem Regierungschef Badoglio sowie wichtigen Offizieren am 9. September 1943 aus Rom nach Apulien (Süditalien), das bereits von alliierten Truppen befreit worden war.“ Und die legitime italienische Regierung habe ihre Tätigkeit im befreiten Süditalien fortgesetzt.

Wie sorgfältig Bernhard Häußler mit der historischen Wahrheit umgeht, belege auch die Bildunterschrift eines Fotos, das er ohne Quellenangabe verwendet hat: „Getötete deutsche Soldaten und Wrack eines Fahrzeugs der Waffen-SS nach einem Partisanenüberfall bei Bardine.“ Tatsächlich, so der Kölner Historiker, zeige das Foto tote Zivilisten. Sie seien am 12. August 1944 im Raum Sant'Anna di Stazzema und Valdicastello festgenommen und nach einigen Tagen Haft und Misshandlungen ermordet wurden. Das Foto (samt korrekter Zuordnung) befinde sich seit 1944 bei den Akten der britischen Ermittlungsbehörden.

Carlo Gentile hat diese und viele andere Ergebnisse seiner Recherchen schon in dem Buch „Wehrmacht und Waffen-SS im Partisanenkrieg – Italien 1943 bis 1945“ beschrieben. Es ist 2012 erschienen, just zu der Zeit, in der Oberstaatsanwalt Bernhard Häußler das Sant'Anna-Verfahren eingestellt hat. Der Kölner Historiker hatte zwar mehrere Jahre lang die italienischen Ermittler beraten, doch aus Stuttgart war nie ein Anruf gekommen..

Jetzt muss die Generalstaatsanwaltschaft in Stuttgart Gentiles Gutachten mit Häußlers Ausführungen vergleichen. Falls der zuständige Oberstaatsanwalt Peter Rörig zu der Erkenntnis kommen sollte, dass Häußler nicht ausreichend ermittelt habe, wird das Verfahren an die Staatsanwaltschaft in Stuttgart zurückgegeben. Sollte Häußler das Ergebnis der Ermittlungen juristisch falsch gewertet haben, muss Anklage vor dem zuständigen Schwurgericht erhoben werden. Mit einer Entscheidung, so der Sprecher der Generalstaatsanwaltschaft, kann in den nächsten Wochen gerechnet werden.

Falls die Beschwerde keinen Erfolg haben sollte, könnte Enrico Pieri noch ein Klageerzwingungsverfahren beim Oberlandesgericht anstrengen lassen. Doch ob bis dahin noch einer der hochbetagten Männer am Leben sein wird, ist ungewiss. Denkbar wäre noch eine andere Wende: Wenn der mittlerweile letzte in Baden-Württemberg noch lebende Beschuldigte stirbt, so ein Sprecher der Generalstaatsanwaltschaft, muss die Justiz das Verfahren an ein anderes Bundesland abgeben.