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Haarscharf an der Einheit vorbeigesegelt

Die Volkskammer führte eine absurde Debatte zum Beitritt nach Artikel 23 / Ministerpräsident de Maiziere zog die Notbremse und beantragte die Überweisung in die Ausschüsse / Der Antrag der DSU wurde nicht mehr abgestimmt /  ■  Von Brigitte Fehrle

Er werde auch künftig nur zu Beerdigungen einen Schlips tragen, sagte der bärtige SPD-Vorsitzende Thierse im Holzfällerhemd am Abend seiner Wahl. Zur Sondersitzung der Volkskammer am Sonntag trug er die schwarze Krawatte. Auf der Tagesordnung stand der Beitritt der DDR nach Artikel 23, die Beerdigung der DDR. Doch dann wurde es doch nur eine halbe Beisetzung. Über den Antrag der DSU nach sofortigem Beitritt wurde gar nicht erst abgestimmt, er wurde gleich in die Ausschüsse überwiesen. Der große symbolische Akt zum 17.Juni, zu dem selbst der Kanzler Kohl in die Volkskammer eilte, geriet zum Windei.

Ministerpräsident de Maiziere und SPD-Fraktionschef Schröder haben das Schlimmste verhindert. Die Absicht der Abgeordneten Ullmann und Weiß von Demokratie Jetzt, die mit ihrer interfraktionellen Initiative (Bündnis 90, SPD, CDU) den verfassungslosen Zustand der DDR beenden wollten und gleichzeitig mit dem Beitritt Bedingungen verknüpften, war naive Tagträumerei. Der Antrag kam gar nicht erst auf die Tagesordnung. Und so haben sie letztlich nicht mehr erreicht, als der DSU den Weg zu ebnen für ihre unverschämte Forderung nach dem Beitritt ohne Wenn und Aber.

Das „hohe Haus“, wie es dramatisierend immer wieder von den Abgeordneten benannt wird, bot in der Debatte niederes Volksschauspiel. Mit völlig unmotivierter plötzlicher Begeisterung jubelten die Abgeordneten dem Ministerpräsidenten zu, als er seine in den letzten Monaten immer wieder geäußerten Vorstellungen zur deutschen Einheit vortrug. Offenbar fiel allen Abgeordneten, einschließlich den Antragstellern, den DSU-Fraktionären, ein Stein vom Herzen, als de Maiziere den Sturzflug in die Einheit bremste. Auch die DSU hat am Ende „vergessen“ ihren Antrag nach sofortigem Beitritt abstimmen zu lassen.

Die Stimmung und die Diskussion am Sonntagnachmittag ließ viel vermissen. Am meisten das, was Konrad Weiß mit dem „politisch gestalteten Weg in die Einheit“ meinte.

Die am meisten beklatschte, ja mit stehenden Ovationen versehene Bemerkung dieses Sonntagnachmittags, war das Wortspiel des Liberalen Ortleb. Er mahnte zur Besonnenheit mit dem Sprichwort, - drum prüfe wer sich ewig bindet. Das hieße allerdings nicht: Drum prüfe ewig, wer sich bindet. Die Begeisterung ob dieser einfältigen Simplifizierung kannte keine Grenzen. Die Abgeordneten defilierten an ihm vorbei, schüttelten ihm die Hand. Es bleibt Psychologen überlassen, dies zu erklären. Die plötzliche Situation, vor der so sehnlichst gewünschten deutschen Einheit zu stehen, ließ die Abgeordneten in kindliches Gebaren zurückfallen. Modrow selbst beschimpfte die Regierung, sie sei nicht in der Lage, den komplexen Prozeß der Einigung zu beherrschen. Wie Demokratie Jetzt fordert er eine Entscheidung des Volkes über die deutsche Einheit und sprach der Regierung des 18.März die Legitimation ab, darüber allein zu entscheiden.

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