Haarige Gedanken: Rupertszeller Edelbräu und das Flaschengeheimnis
■ Aus der lehrreichen, erbaulichen Lebensbeichte des Huckelrieder Friseurmeisters Bruno Jablonski – 3. Folge
Auf dem Regal in der Küche meiner Wohnung stehen verschiedene Gegenstände, die sich in der Zeit angesammelt haben, als ich noch meinen Salon besaß. Ein bunter Brummkreisel, den ein kleiner Junge vergessen und nie abgeholt hatte; die Postkarte von Renate F.; ein Klappmesser, mit dem ein Jugendlicher mich ausrauben wollte, was ich ihm jedoch in einem längeren Gespräch ausreden konnte; viele an sich unbedeutende und nutzlose Gegenstände, die Kunden vergessen oder mir geschenkt haben. Unter ihnen befindet sich auch eine Flasche Bier, Rupertszeller Edelbräu.
Vor etwa sieben Jahren kam ein Mann Mitte fünfzig in meinen Salon. Er war korpulent und ungepflegt, graue Bartstoppeln bedeckten sein zerfurchtes Gesicht. Er trug eine abgeschabte Ledertasche, die er argwöhnisch an seine Brust geklammert hielt. Äußerst unwillig legte er diese Tasche unter den Frisierstuhl, als er sich setzte; am liebsten hätte er sie während des gesamten Frisiervorganges auf seinem Schoß unter dem Umhang gewusst.
Seine schütteren Haupthaare stellten mich vor ein echtes Problem. Ich konnte nicht viel mehr tun, so überlegte ich, als die Spitzen ein wenig zu stutzen und die verbliebenen Haarsträhnen so geschickt über seine Glatze zu legen, dass der Eindruck völliger Kahlheit ausblieb. Doch mein Kunde überraschte mich mit dem Wunsch, kahlgeschoren zu werden. Das war ungewöhnlich, denn im Regelfall sind Menschen mit ausgehender Kopfbehaarung bemüht, jedes einzelne ihrer Haare zu hegen und zu pflegen, auf dass sie noch einige Zeit bei ihnen bleiben mögen.
Wir unterhielten uns, und aus purer Neugierde lenkte ich das Gespräch auf die Ledertasche unter dem Stuhl. Er zögerte zunächst und holte dann einige Versicherungen von mir ein, die beinhalteten, dass ich ihn nicht für verrückt halten würde, falls er mir vom Inhalt der Tasche erzählte. Dann lehnte er sich zurück, und während ich ihm den Kopf schor und die Stoppeln aus dem Gesicht kratzte, vertraute er mir seine Geschichte an.
„Also, ich bin ein passionierter Biertrinker, Genießer und Kenner. Ich unterhalte Brieffreundschaften mit Bekannten in aller Welt, die mir gelegentlich exotische Sorten zuschicken. Ich stelle mir die Flaschen aber nicht ins Regal, sondern trinke sie aus; ich bin wie gesagt ein Genießer und kein Sammler. Oftmals durchstöbere ich auch Getränkemärkte und kaufe eine Sorte, die ich noch nicht getrunken habe. Ich kaufe immer zwei Flaschen, nicht mehr und nicht weniger. Abends setze ich mich dann auf den Balkon und trinke sie aus und genieße den neuen Geschmack und den neuen Abend.
So weit, so gut. Vor vierzehn Tagen habe ich meine Schwester in Ochtersum, das ist im Harlinger Land, besucht. In einem Tante-Emma-Laden habe ich die Getränkeabteilung durchstöbert. Und was habe ich in einem Regal hinter den obligatorischen Jever-Flaschen entdeckt? Zehn Flaschen Rupertszeller Edelbräu. Hatte ich noch nie gehört. Ich musste mich zusammenreißen, nur zwei der verstaubten Flaschen zu kaufen, um meiner Maxime nicht untreu zu werden. Für meine Schwester und mich habe ich Jever gekauft, aber das Edelbräu habe ich mit nach Hause genommen, um es, wie immer, einsam auf dem Balkon zu genießen. Ich trinke also die erste Flasche – obwohl das Haltbarkeitsdatum schon um gut zwei Jahre überschritten war, schmeckte es gar nicht übel – und will gerade die zweite Flasche öffnen, da höre ich plötzlich eine Stimme in meinem Kopf. ,Fahr dein Auto weg', sagte die Stimme immer wieder, ,stell es woanders hin'. Ich hatte Angst, verrückt zu werden, und legte mich ins Bett, schließlich verstummte die Stimme und ich konnte schlafen. Als ich am nächsten Morgen zur Arbeit fahren wollte, musste ich jedoch feststellen, daß ein Lastwagen meinen kleinen Fiat beim Einparken so sehr zusammengeschoben hatte, dass keine Maus mehr hinters Steuer gepaßt hätte.
Am Abend probierte ich mit Neugierde und Bangen die zweite Flasche. ,Gehe zur Ecke Kornstraße/Friedrich-Ebert-Straße', sagte die Stimme diesmal. Aus Angst, dass erneut etwas Unschönes passieren würde, ging ich hin. Ich wartete eine halbe Stunde und nichts geschah. Als ich mich enttäuscht abwenden wollte, lief direkt neben mir ein kleines Mädchen auf die Straße. Ich konnte sie gerade noch am Arm packen und sie vor dem heranrauschenden BMW in Sicherheit bringen. Seit diesem Erlebnis bin ich überzeugt davon, dass Gott in diesem Bier wohnt.“
Er sah mich im Spiegel an und wartete auf eine Reaktion. „Was ist mit den restlichen Flaschen?“ fragte ich. „Oh, natürlich bin ich gleich am nächsten Tag hingefahren und habe sie gekauft. Alle acht waren noch da. Jedenfalls kam es bei der dritten und der vierten Flasche zu Missverständnissen zwischen mir und der Stimme. Ich konnte die Botschaften nicht klar genug verstehen und stand an Orten herum, an denen nichts geschah. Nach der fünften Flasche sagte mir die Stimme, dass ich meinen Kopf rasieren lassen solle, um ihre Botschaften besser empfangen zu können. Deshalb bin ich hier.“ Ich nickte nachdenklich. „Jetzt halten Sie mich für verrückt“, sagte er misstrauisch. „Sie zeigen es nicht, aber Sie halten mich für plemplem.“ „Nein, keineswegs“, wusste ich ihm überzeugend zu versichern. Er sah mich lange prüfend an, dann kramte er in seiner Ledertasche und stellte eine Flasche Rupertszeller Edelbräu auf die Ablage vor dem Spiegel. „Probieren Sie es selbst“, sagte er und ging. Die Flasche steht noch immer auf meinem Regal, ungeöffnet. Tim Ingold
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