Grünen-Politiker Habeck über 2011: "Dagegen sein ist keine Tugend"
Robert Habeck, Spitzenkandidat der Grünen bei der Schleswig-Holstein-Wahl, über Winfried Kretschmanns Glanz, die neue ökologische Moderne und Helmut Schmidt.
taz: Herr Habeck, wenn Helmut Schmidt Sie 2012 anruft und sagt: Lieber Robert, ich geh mit Ihnen zu Günther Jauch – wie reagieren Sie?
Robert Habeck: Jauch und Schmidt, da brauch ich nicht zu antworten, da sind alle Antworten ja schon gegeben. Lieber Helmut, sage ich, machen Sie Ihre Show lieber mit Peer Steinbrück.
2011 war ein widersprüchliches Jahr, das viele ratlos machte. Was folgt für Sie daraus?
Zwei Prozesse laufen parallel ab: Der eine ist Stuttgart 21, Liquid Democracy, Occupy, internetbasierte neue Protest- und Artikulationsformen und der Wunsch von vielen, sich einzubringen. Dem entgegen steht das Entkoppeln wichtiger Entscheidungen von demokratischen Prozessen, permanente Gipfeltreffen und Personenkulte um Politiker. Wir können aber das Geschick von Europa nicht davon abhängig machen, ob sich Merkel und Sarkozy gern Bussi-Bussi geben. Den Wunsch nach direkter Mitbestimmung und gutem Regierungshandeln zusammenzubringen, das ist die Aufgabe für die nächsten Jahre: Etwas Neues aus Gegensätzen schaffen.
Das Jahr ist also nicht in den Kriterien "schlecht" oder "gut" zu fassen?
Die vielen Großereignisse sind in Wahrheit nicht überraschend gekommen, sondern aus der Zuspitzung der großen, ungelösten Probleme der globalen Gesellschaft: Von der Reaktorkatastrophe von Fukushima bis zur europäischen Schulden- und Staatskrise, dem Nachwirken der Finanzkrise und der Hilflosigkeit des Westens bezüglich der Kriege, die er führt. Innerhalb der großen Probleme verdrängt die eine Krise dann die nächste aus der öffentlichen Wahrnehmung, die Schuldenkrise zum Beispiel die Klimakrise, bis wieder irgendein Unglück passiert.
42, ist Fraktionsvorsitzender der Grünen im Landtag von Schleswig-Holstein und alleiniger Spitzenkandidat für die vorgezogene Landtagswahl im Mai 2012. Er ist Doktor der Philosophie und Schriftsteller. Lebt mit Frau und vier Söhnen in Flensburg. Derzeit regiert in Kiel eine CDU-FDP-Koalition.
Was bleibt – außer dem Rückzug ins Private?
Lösungen finden wir in der Politik erst dann, wenn wir zugeben, dass die Probleme so groß geworden sind, dass wir sie mit den Denkmustern der letzten zehn, zwanzig Jahre nicht mehr lösen können. Und wenn man genau hinschaut, kann man erkennen, wie sich in der Gesellschaft neue Bereitschaft herausbildet, sich an der Lösung der Probleme zu beteiligen. Nehmen Sie den Atomausstieg: Der verdankt sich nicht der Einsicht der Parlamente, sondern dem Realitätssinn und Willen des Volkes.
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Eher einer Stimmung des Volkes.
Nein, nein, ich kann es spüren, dass sich eine starke Bewegung für Veränderung formiert. Finanzmärke kontrollieren, Energiewende einleiten, Klimakrise bewältigen, den öffentlichen Raum vor dem Niedergang bewahren, Föderalismus in Europa und Deutschland neu ordnen – Mittel finden, demokratische Beteiligung neu zu organisieren, das wird in den nächsten Jahren Mainstream. Und das Letzte ist die große Klammer um alles. Nur wenn Politik stark und legitimiert ist, kann sie große Räder drehen. Sicher keine Beschreibung für den Ist-Zustand.
Deshalb preist der Politiker der Gegenwart Auf-Sicht-Fahren als Tugend. Steinbrück kann es. Merkel sowieso. Können Sie es?
Sagen die, die keine Idee von der Zukunft entwickeln können. Aber auf Sicht fahren heißt, dass man den Kurs verloren hat, sich in Nähe der Küste langschlängelt und immer in Gefahr ist, aufzulaufen. Aus nautischer Sicht katastrophal. Stattdessen brauchen wir ein neues Radar, damit das Boot neues Land erreicht.
Wo war 2011 Glanz?
Aus parteipolitischer Sicht ist es sicher glanzvoll, dass Winfried Kretschmann erster grüner Ministerpräsident geworden ist. Das freut mich auch persönlich sehr, weil Kretschmanns Wahl zeigt, wie offenherzig man Politik betreiben kann und wie gerade das nicht als naiv, sondern als stilbildend gilt.
Anfang des Jahres sah es aus, als etabliere sich das Linksbürgerlich-Ökologische als dritte zentrale Strömung der Gesellschaft. Und nun?
Ich sehe das nach wie vor so kommen. Die neue ökologische Moderne ist keine Eintagsfliege. Am Ende dieser Dekade wird genau diese Programmatik Wahlen entscheiden. Die Gesellschaft wächst auf die Grünen zu.
Aha.
Nix aha. Man kann die Klimakrise nicht lösen, wenn man sagt, dass Wachstum allein die Gesellschaft rettet, wie SPD und CDU das tun. Weder klappt das in den Großstrukturen der Industrie noch im Glauben, dass die Kennziffern des Bruttoinlandsprodukts nur helfen, Haushalte und Gemeinwesen zu sanieren. Ohne ökologische und soziale Fundamente ist das alles nichts. Und das Neue ist, dass diese Erkenntnis nicht mehr als Spinnkram von Ökophilosophen beim Yogi-Tee verlacht wird, sondern angekommen ist in den Wirtschaftsprozessen und im Denken der Wirtschaft selbst.
Der Aufstieg der Piraten hat die Grünen in die Onkel- und Tantenecke gedrängt.
Meine Grünen sind cooler und punkiger, als es der Bericht aus Berlin oder die taz wahrhaben will.
Ähem, punkig?
Ja. Und die Piraten sind längst nicht so hip, wie man sie aussehen lässt. Es gibt Analysen, dass in die Politik nur die Leute gehen, die früher nicht zu den coolen Partys eingeladen wurden …
… das müssen Sie wissen.
Ich hab nicht den Eindruck, dass die Piraten die sind, die früher alle eingeladen haben. Der Erfolg der Piraten artikuliert nicht den Wunsch nach mehr Internet. Er speist sich aus dem Wunsch, neue Partizipationsformen der Demokratie zu schaffen. Das ist super. Was sie aber damit auch artikulieren, ist die Radikalisierung von Privatheit, darunter auch Zurschaustellung von Räumen und Menschen. Mir klingt das zu vertraut nach Eigennutz vor Gemeinnutz. Sie wollen, dass Bus fahren nichts kostet – aber sich mit dem Haushalt erst später beschäftigen. Demokratie beginnt aber doch erst, wenn man entscheiden muss, ob man dafür Studiengebühren einführt.
Lieber Herr Habeck, Entschuldigung, aber Sie sind nicht punkig.
Ich hab ja auch nicht von mir, sondern von meiner Partei gesprochen.
Seit der Berlin-Wahl und trotz 17,6 Prozent gelten die Grünen bei manchen als Verlierer dieses Jahres.
Die Grünen haben fünf von sieben Landtagswahlen teilweise bestimmt. Jahresverlierer sehen anders aus. Aber richtig ist, dass sich die Berlin-Wahl wie eine Niederlage anfühlt.
Renate Künast wollte den nächsten Schritt machen und die Regierung übernehmen.
Rückblickend gesehen, war das der Moment, in dem es kippte. Als Renate Künast sagte, sie wolle Wowereit ablösen, und man mit großem Spektakel einen Obama-Moment inszenierte. Damit war die Geschichte erzählt, Künast war plötzlich Verteidigerin und Wowereit Herausforderer.
Sie verlor das Amt, das sie noch gar nicht hatte?
Genau. Allerdings enthält das Alles-falsch-gemacht-Gerede auch immer eine große Ungerechtigkeit, nämlich, ob es tatsächlich anders hätte gemacht werden können. Man hätte sehr viele Rituale brechen müssen. Bei Kretschmann war es umgekehrt. Er sagte: Das Amt muss zum Manne kommen. Und genau das hat dazu geführt, dass der Moment der Spannung, die Geschichte bei ihm geblieben ist. Er wurde nicht zum Gegenspieler des Helden wie Künast, sondern blieb selbst der Held und die Hauptfigur.
Seit Berlin geht der Trend zur CDU-SPD-Koalition.
Stimmt, für den Bund kann man die Tendenz zur großen Koalition geradezu riechen. In Schleswig-Holstein ist das wegen persönlicher Geschichten nicht unbedingt naheliegend, aber auch ganz und gar nicht undenkbar. Wenn die Frage ist, wo die größten inhaltlichen Schnittmengen sind, dann ist die Antwort grad bei den Dingen, über die wir sprachen, Ökologie, Wirtschaft, Demokratie: bei SPD und CDU. Wobei Antwort in diesem Fall eben meint, keine Antwort zu geben.
Auf Bundesebene haben die Fraktionschefs Trittin und Künast einen Blankoscheck für die SPD ausgestellt.
Es gibt zwei widersprüchliche Verständnisse bei den Grünen. Das eine definiert die Grünen innerhalb von Lagern als eigenständig und sagt, wir können uns in einem rot-grünen Bündnis am besten entfalten. Und die andere, wie ich finde, radikalere und risikoreiche Interpretation …
Ihre, nehme ich an.
Ja, meine ist, dass es zur permanenten Delegitimation von Politik beiträgt, erst innerhalb eines Bündnisses zu denken und sich dann dem Bündnis anzupassen. Politikwechsel heißt nicht mehr einfach nur, dass Rot-Grün besser ist als Schwarz-Gelb. Politikwechsel bedeutet eine radikalere Form von Lösungsbuchstabierung ohne Benennung der Koalition. Und dann sagt man: Wer dazu bereit ist, mit dem reden wir.
2011 war auch der Verratsvorwurf gegen die Grünen en vogue. Grade die neuen Wähler in Baden-Württemberg haben sie gewählt, damit der Tiefbahnhof nicht gebaut wird. Die sind jetzt weg.
Abwarten. Die grünen Umfragewerte sind auch nach dem verlorenen Volksentscheid besser als das Wahlergebnis. Es ist Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg gelungen, nicht altmodisch Schröder-Steinbrück-strotzend Leadership zu artikulieren, sondern positiv als Umgestalter von Prozessen wahrgenommen zu werden.
Auf der anderen Seite haben Sie linksbürgerliche Wähler, die sich verraten fühlen, wenn wegen eines Stücks Autobahn nun in Berlin fünf Jahre die CDU regiert.
Das wiederum verstehe ich. Es geht ja im Verkehrsbereich endlich um den Beginn eines systemischen Umbaus, hier in Schleswig-Holstein muss ÖPNV in die Metropolen und E-Mobilität aufs Land. Da ist es politisch nicht klug, sich freiwillig auf die Verhinderung eines Projektes reduzieren zu lassen. Es mag zum Mobilisieren beitragen, aber letztlich ist es ein Zeichen konzeptioneller Schwäche und strategischer Not. Und daher wird es vom politischen Gegner, und als solchen kann man die SPD durchaus bezeichnen, gnadenlos ausgenutzt.
Verwenden Sie eigentlich den Begriff Wutbürger?
Nein. Wut ist keine Bürgertugend. Dagegen sein ist noch keine Tugend. Das Protestieren und Dagegensein ist oft notwendig, aber nicht hinreichend. Es zeigt zwar, dass Bereitschaft da ist, sich um Dinge zu kümmern. Aber es zeigt noch nicht, dass das Radar funktioniert.
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