: Großmutter unter Nomaden
Auf der Spur der Steine. Die Schweizer Künstlerin Susann Glauser hat zwei Monate mit den Tuareg in der Sahara gelebt. Eine „Großmutter“ ist bei den Tuareg aller Pflichten im Dorf entbunden und frei, sich hinzubegeben, wo immer sie will
von ANDREAS KIRCHGÄSSNER
Die Leute meinen zumeist, so etwas ist Zufall, sagt sie und lächelt. Susann Glauser, die freundliche, sechzigjährige Schweizerin legt behutsam ein Holz in den Kamin, denn hier, in den Hochlagen des Berner Hinterlandes, ist es empfindlich kalt. Kalt wie in Wüstennächten, in denen das Feuer, jenes kostbare Gut, seine letzte wichtige Funktion erfüllt: Wärmen.
Auf ihren Saharawanderungen, so erzählt Susann, haben die Tuareg die raren Holz- und Wurzelreste aufgelesen und an die abgelegensten Rastplätze mitgeführt. Da man aber die Kamele so wenig wie nötig beladen wollte, suchten sie stets Plätze mit etwas Holz in der Umgebung. Plätze, denen man ansah, dass an ihnen bereits seit Generationen gelagert wurde. Bevor die letzte Glut am Abend die Umsitzenden wärmte und die Männer begannen, einige ihrer zahllosen Geschichten zu erzählen, meist vom Schakal, war das kleine Feuer die einzige Lichtquelle in der Weite, ein Zeichen von Leben, von Geborgenheit unter Menschen. Hier kochten die Tuareg über den Flammen das Essen, darunter in der Glut buken sie das Brot, etwas Holzglut daneben für den Tee, den unverzichtbaren. All das mit außerordentlicher Sorgfalt arrangiert: Nichts brannte an, nichts blieb roh.
Diese Fähigkeit, mit größter Sorgfalt die spärlichen Ressourcen auszuschöpfen, treibt der zurückhaltenden Susann den Glanz in die Augen. Vor zehn Jahren sei sie zur Wüste als Malerin und Bildhauerin gekommen, war auf der Spur der Steine, der windgedrehten Hölzer und Sandverwehungen. Dann war es wieder der Zufall: Die Brüder, die sie mit den Kamelen im südalgerischen Tamanrasset erwarteten, brachten sie nach einer ausgedehnten, mehrwöchigen Wanderung durch die Ausläufer des Ahaggar an ihre Siedlung, das Dorf Efaq. Sie lagerte zunächst abseits, denn niemand nistet sich ohne Einladung einfach in einem Tuaregdorf ein. Am Morgen sah sie von einer Anhöhe herab auf die Ausläufer des Hoggar-Gebirges, das weite Land voller Geröll, durchzogen von Flussbetten, in denen sie sich damals noch kein Wasser vorstellen konnte. Und Pfade, die sie noch nicht als Ziegen- oder Menschenpfade unterscheiden konnte, Pfade jedenfalls, die ins Nichts zu führen schienen. Sie sah auf das Dorf Efaq, sah die Schilfhütten, aus denen die kleinen Kinder nackt heraussprangen, sah die Tuareg in Lumpen. Und dachte: Das ist Armut! Die Brüder brachten sie zu ihrer Mutter. Die Alte, die höchsten Respekt genoss, sprach nichts außer Tamaschek. Schweigend betrachtete sie Susann, und schweigend betrachtete Susann, selbst Mutter von vier erwachsenen Kindern und Großmutter einer Schar von Enkeln, die Frau. Und ihre Blicke müssen die Sprachlosigkeit überwunden haben. Die alte Targia lud sie ein, wiederzukommen, um mit ihnen, den Frauen in Efaq zu leben. Dies war keine leicht dahingesagte Höflichkeit. Dies war die Einladung einer Tuareg-Großmutter!
Susann brach auf in das Tassili n’Ajjer, um das sagenumwobene Djanet zu sehen, die Felsmalereien und Gravuren, Louvre der Sahara, Zeugnis von 10.000 Jahren Leben, von üppiger Vegetation, von Jägern und Tänzern, von heute so unvorstellbaren Tieren wie Giraffen und Elefanten. Auf dem Rückweg erkrankte sie schwer. Man brachte sie nach Tamanrasset in eine gebildete Familie. Der Großvater der Familie war ein Freund Saint-Exupérys gewesen, damals einer der wenigen, die in Tamanrasset französisch sprachen. Wieder so ein Zufall. Die Familienmitglieder sahen Susann Glauser zunächst verstört an und machten rätselhafte Bemerkungen über „eine Ähnlichkeit“. Schließlich kramte man eine Schachtel mit Fotos hervor. Sie zeigten die verstorbene Frau des Mannes, der Saint-Exupérys Freund gewesen war. Die Frau glich Susann erstaunlich. Dieser „Zufall“ begründete eine Freundschaft, die bis heute dauert und ihr seither erlaubt, ihre eigenen Exkursionen von Tamanrasset aus zu organisieren.
Zurück in der Schweiz, eingebunden in ihre Pflichten als Kursleiterin für bildnerisches Gestalten bei der Lehrerfortbildung des Kantons Bern, reifte ihr Entschluss. Sie plante, für zwei Monate nach Efaq und auf Wanderungen zu gehen. Sie besorgte sich die Bücher Charles Foucaulds, der Tamaschek, die Sprache der Tuareg, phonetisch festgehalten hat. Bis ins Kleinste bereitete sie ihre Reise vor. Vor allem Beschaffung und Transport sinnvoller Gastgeschenken. Sie, schon berufswegen eine gute Beobachterin, wusste, dass unter Tuareg ein selbstverständliches Geben und Nehmen herrscht. So besorgte sie – von den Fotos ihrer Familie über Getreide für das Dorf bis zu bunten Wollknäuel und Nähzeug – Dinge, die es dort nicht gab. Gleichzeitig sicherte sie sich damit ihre zukünftigen Aufgaben im Dorf: als Näherin zerrissener Kleider und Strickerin warmer Wollmützen für die Kinder.
Angekommen in Efaq fragten die Dorfbewohner sie täglich, ob sie wirklich bleiben wolle. Weiße hatte man bisher nur durchreisen sehen. Eine Alleinreisende, die vorhatte, Monate bei ihnen zu bleiben, das war eine Sensation. Doch als Susann dann die Fotos ihrer Enkel herumreichte, löste sich die Irritation: Eine Großmutter ist bei den Tuareg aller Pflichten im Dorf entbunden und frei, sich hinzubegeben, wo immer sie will.
So eröffnete sich Susann langsam das Leben der Tuareg: Die Kinder, die bis zum fünften Lebensjahr meist nackt herumlaufen und fast unbegrenzte Freiheit genießen. Spielerisch und ohne Ermahnung lernen sie durch Zuschauen und Nachahmen. Nie fällt ein lautes Wort, nie wird gestritten. Dann berichtet Susann von dem, was wir „Matriarchat“ nennen: Die erste Menstruation wird mit einem Fest gefeiert. Das Mädchen nimmt fortan an den „ahal“ teil, wo jeder Targi für seine Tagia tanzt. Und bekommt einen Freund des Herzens, der sie zukünftig umwirbt und umsorgt. Es gibt institutionalisierte Scherzbeziehungen, von denen man hofft, dass sie in Ehen münden werden. Niemand erwartet, dass eine Frau „jungfräulich“ in die Ehe geht. Und all dies inmitten der arabischen Welt. Arm erschienen ihr diese Menschen plötzlich überhaupt nicht mehr.
Jeden Vormittag ging sie in die Wüste, um zu zeichnen. Die Gleichförmigkeit des Lebens, die immer gleichen Gespräche, die Weite des toten Landes: Künstler musst du schon sein, um es dort auszuhalten, sagt Susann. Es ist ein hartes, kein romantisches Leben. Aber ein schönes, wie sie versichert: die äußerste Kultivierung des Mangels. Sie danach zu fragen, bedeutet, einen Strom von Geschichten auszulösen. „Eine Reise ohne Geschichten ist keine gute Reise“ zitiert sie die Tuareg.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen