Großbritannien und der Brexit: Aus dem Winterschlaf geweckt
Der frühere Botschafter in Russland wird britischer Chefdiplomat bei der EU. Sein Vorgänger war auf sehr undiplomatische Art zurückgetreten.
Rogers’ undiplomatischer Rücktritt war ein kalkulierter Schlag gegen die Autorität der Premierministerin. Ivan Rogers äußerte sich per E-Mail aus seinem Feriendomizil im südenglischen Dorset, ohne vorherige Rücksprache mit seinen Chefs. Wenig später gelangte seine explosive Rundmail an sein Team an die Öffentlichkeit. Darin erklärte er, „ernsthafte multilaterale Verhandlungserfahrung“ sei in London, anders als in Brüssel, „Mangelware“. Im Vorausblick auf die Brexit-Verhandlungen fuhr er fort: „Ich hoffe, dass Sie weiterhin unbegründeten Argumenten und konfusen Gedanken entgegentreten und dass Sie nie Angst davor haben werden, den Mächtigen die Wahrheit zu sagen.“
In der Presse wurde das so dargestellt, als habe Rogers selbst Theresa May „konfuse Gedanken“ vorgeworfen – kein Wunder, denn dieser Vorwurf ertönt in London oft, da die Premierministerin sich beharrlich weigert, ihre Brexit-Strategie genauer zu erläutern.
Der Spin aus Regierungskreisen ist jetzt, dass Rogers ein „Pessimist“ war, Nachfolger Barrow hingegen ein „Pragmatiker“, der überdies besser mit der Premierministerin und mit Außenminister Boris Johnson klarkomme als sein Vorgänger. Rogers hatte sich in die Nesseln gesetzt, als er vor einem EU-Gipfel in Brüssel im Oktober ein Pressebriefing über die zu erwartenden Äußerungen Theresa Mays gab, ohne den Inhalt vorher mit ihr abzuklären. Als er danach die in Brüssel zirkulierende Überzeugung wiedergab, wonach die Brexit-Verhandlungen bis zu zehn Jahre dauern könnten, waren seine Tage gezählt.
Brexit-Grundsatzrede erwartet
Vor einem Jahr führte Rogers die glücklosen Verhandlungen des damaligen britischen Premiers David Cameron zur Neuverhandlung der EU-Verträge, deren Ergebnisse so mager waren, dass wichtige Parteifreunde zum Brexit schwenkten und Cameron die EU-Volksabstimmung am 23. Juni verlor. Von Barrow wird nun erwartet, dass er Londons Interessen erfolgreicher vertritt. Grundvoraussetzung dafür ist in Theresa Mays Politikverständnis eine geschlossene Verhandlungsposition, von der möglichst wenig nach außen dringt. Dafür ist der schweigsame Barrow, dem eine Geheimdienstvergangenheit nachgesagt wird, ideal.
Je weniger May sich in die Karten blicken lässt, desto mehr erweckt sie den Eindruck, die Getriebene zu sein. Die Affäre um den Chefdiplomaten in Brüssel war da nicht hilfreich. Entscheidend dürfte nun eine Grundsatzrede der Premierministerin zum Brexit sein, die noch im Januar erwartet wird, nachdem das Oberste Gericht in London sein Urteil zu der Frage abgibt, ob das Einreichen des britischen EU-Austrittsantrags gemäß Artikel 50 der EU-Verträge einem Parlamentsvorbehalt unterliegt.
Sollten die Obersten Richter dies bejahen, wie es bereits im November die Vorinstanz tat, dürfte May einen knapp gefassten Gesetzentwurf ins Parlament einbringen. Der könnte allerdings stecken bleiben, sofern nicht rasch Klarheit über das Verhandlungsziel entsteht.
Denn ein Austritt aus der EU bedeutet nicht automatisch den Austritt aus dem Europäischen Wirtschaftsraum, dem zum Beispiel das Nicht-EU-Mitglied Norwegen angehört, oder der Europäischen Zollunion, die auch die Türkei umfasst. Nur ein Austritt aus allen drei Strukturen würde aber das Versprechen der Brexit-Befürworter einlösen, die volle Kontrolle über Gesetzgebung und Grenzen zurückzuerlangen.
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