Großbritannien nach der Wahl: Die britische Revolution
Die Wähler haben das zwei Parteiensystem satt und begonnen, gegen den Willen ihrer Politiker das britische Wahlsystem radikal umzukrempeln.
V or einem Jahr steckte die britische Politik in einer vorrevolutionären Krise. Der Spesenskandal untergrub die Autorität des Parlaments, denn er diskreditierte über Monate immer mehr Abgeordnete. Und eine Revolte an der Spitze der Labour-Partei gegen Premierminister Gordon Brown untergrub schließlich die Autorität der Regierung. Jetzt, nach der Parlamentswahl, steht die Revolution fast am Ziel - in typisch britischem Understatement.
Zu Hunderten haben korrupte Parlamentarier ihre Sitze verloren. Entweder wurden sie von der eigenen Partei nicht mehr aufgestellt oder vom Wähler verjagt. Das britische Wahlvolk hat sich selbst an die Erneuerung seiner politischen Klasse gemacht. Wahlkreis für Wahlkreis nahm es die Kandidaten genau unter die Lupe und entschied im Zweifel anhand der Person und ihres Engagements. Großbritanniens Wahl ist ein buntes Mosaik aus 650 einzelnen Wahlen, in denen die Menschen die Politik auf ein überschaubares Maß zurückgestuft haben. Was dabei insgesamt herauskam, lässt sich auf keinen gemeinsamen Nenner bringen.
Aber auch dieser Flickenteppich befördert die Erneuerung der britischen Demokratie. Die Briten haben ein Parlament gewählt und keine Regierung, und nun haben sie ein Parlament und keine Regierung. Dass niemand die absolute Mehrheit im Unterhaus genießt, ist die denkbar einfachste Lösung für den schleichenden Legitimitätsverlust der Legislative gegenüber der Exekutive in den letzten 30 Jahren, den Analytiker letztes Jahr einhellig als tiefere Ursache der Krise des Westminster-Parlamentarismus ausgemacht hatten. Wenn es keine Mehrheiten gibt, wird im britischen System das Parlament und nicht mehr die Regierung, Westminster und nicht mehr Whitehall zum zentralen Ort der politischen Entscheidungsfindung.
Dominic Johnson ist Auslandsredakteur der taz.
Einziges Hindernis ist jetzt noch Gordon Brown, der dank eines atemberaubenden Realitätsverlusts bis auf Weiteres Premierminister bleiben will. Ähnlich wie Gerhard Schröder 2005, wenn auch noch sturer, sieht Brown überhaupt nicht ein, wieso er aus mathematischen Gründen die Macht abgeben soll. Dabei gibt es keine denkbare Mehrheit im Parlament für eine Regierung unter seiner Führung.
Die britische Revolution 2010 ist erst dann vollendet, wenn David Cameron als Premierminister in 10 Downing Street einzieht, und zwar nicht als Führer einer Einparteienregierung, sondern an der Spitze einer Koalition. Damit würde er die Wende zu einer "neuen Politik" verkörpern, in der politische Prioritäten ausgehandelt und begründet statt dekretiert und durchgepeitscht werden.
Das ist auch deshalb notwendig, weil Großbritannien zunehmend auseinanderdriftet. Labour ist fast nur noch in Großtädten vertreten und ist in Englands Südhälfte außerhalb von London eine Splitterpartei. Die Konservativen haben im Süden und in der Mitte Englands fast flächendeckend abgeräumt, existieren aber kaum in Nordengland und Schottland. Die Uneindeutigkeit des Gesamtergebnisses verdeckt also zahlreiche lokale und regionale Eindeutigkeiten. Aber Großbritanniens zentralistisches Regierungssystem ist nicht auf lokale und regionale Vielfalt eingestellt.
Gerade weil die britischen Wähler bei dieser Wahl stark nach lokalen Kriterien abgestimmt haben und ganz genau auf die Qualität ihrer einzelnen Abgeordneten achten, dürfte ein Reformbündnis aus Konservativen und Liberaldemokraten auf erhebliche Probleme stoßen. Zwar ist die Mehrheit der Wähler durchaus für eine solche Zusammenarbeit, gerade weil das Vertrauen in die Fähigkeiten einer einzigen Partei stark gesunken ist. Die Basis beider Parteien ist aus dem Bauch heraus aber mehrheitlich dagegen. Dass es bereits viele erfolgreiche blau-gelbe Koalitionen auf kommunaler Ebene gibt, zum Beispiel in Englands zweit- und drittgrößten Städten Birmingham und Leeds, ist irrelevant, denn Stadtpolitik lässt sich eben nicht verallgemeinern. In weiten Teilen gerade des ländlichen, wahlentscheidenden Englands sind Konservative und Liberaldemokraten seit jeher die Hauptgegner, und dass Cameron jetzt überhaupt an eine Regierungsbildung denken kann, liegt vor allem daran, dass die Liberaldemokraten auch diesmal wieder den Kürzeren zogen, dem ganzen Clegg-Gerede zum Trotz. Die Chuzpe, mit der Europas älteste politische Partei sich zur alleinigen Kraft der Erneuerung stilisierte, ist dabei übrigens genauso schwindelerregend wie Browns Leugnung der Niederlage.
Viele Basisaktivisten der Liberaldemokraten positionieren sich eher links als rechts und träumen von einem "progressiven Bündnis" mit Labour. Viele Konservative halten die Wahl eigentlich angesichts der fehlenden Mehrheit für ein Desaster und Cameron für gescheitert. Die absolute Mehrheit verfehlten die Konservativen schließlich vor allem deshalb, weil die Parteiführung in vielen als besonders wichtig erachteten Wahlkreisen Kandidaten gegen den Willen der lokalen Basis aussuchte. Sie wollte unter anderem Frauen und Minderheiten fördern, doch eine Reihe dieser Kandidaten fiel dann bei der Wahl mangels lokaler Unterstützung durch.
Die Basis beider Parteien wird nun von ihren neuen Abgeordneten erwarten, dass sie der Basis folgen und nicht der Führung. Auf den regelmäßig überfüllten Wahlversammlungen auf Wahlkreisebene vor der Wahl, bei denen die verschiedenen Kandidaten sich gemeinsam dem Publikum stellten, tauchte immer wieder die Frage auf, ob ein Kandidat im Unterhaus auch gegen die Parteilinie stimmen würde. Alle fühlten sich genötigt, dies zu bejahen.
Die Abgeordneten gehen ein hohes Risiko ein, wenn sie dieses Versprechen schon bei der allerersten Abstimmung, nämlich der Zustimmung zum Koalitionsprogramm, brechen. Aber nur wenn sie das tun, kann es eine Regierung geben, die dauerhaft etwas verändert. Das britische Volk hat die politische Klasse in die Defensive gedrängt, trotzdem dürfen sich die Politiker jetzt nicht in Parteieninterna ergehen. Sie müssen nun das Ergebnis konstruktiv umsetzen.
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