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Großbritannien nach dem BrexitBleiben oder gehen

Seit dem Referendum nimmt die Fremdenfeindlichkeit im Vereinigten Königreich zu. Auch dort lebende Deutsche spüren die veränderte Stimmung.

Blick auf den Londoner Finanzbezirk: Die Mehrheit der Londoner stimmte für den Verbleib in der EU, die Mehrheit der Briten dagegen Foto: Hannah Mckay/dpa

London taz | Deutscher als das „Stein's“ kann London kaum sein – die wuchtigen Tische wurden in Bayern gezimmert, auf der Speisekarte stehen Obatzer und Weißwurst, frisch geliefert von der Metzgerei in München, und aus den Lautsprechern dudelt Schlagermusik.

„Das Personal gibt sich immer extra Mühe, die schlimmste deutsche Musik rauszusuchen“, sagt Bele Weiß belustigt. Die Inhaberin hat an einem der Holztische Platz genommen. Die Kellnerin kommt, fragt, was es sein soll. Sie spricht Deutsch, wie alle Angestellten. Soll eben alles authentisch sein im Stein’s – vom Jodler bis zum Dirndl.

Weiß selbst passt ebenfalls gut hierher: groß und blond, wie man sich eine typische Deutsche vorstellt. Zwei Restaurants betreibt sie in London und ist dabei, ein drittes aufzumachen. Die deutsche Urigkeit kommt gut an, bei Einheimischen und Touristen, selbst beim Personal von Jamie Olivers Restaurant schräg gegenüber, das das Stein’s vergangenes Jahr für seine Weihnachtsfeier gebucht hatte.

Für die über 3 Millionen Ausländer im Vereinigten Königreich, darunter 300.000 Deutsche, ist es seit der Abstimmung über den Brexit allerdings eine Spur ungemütlicher geworden. Das britische Innenministerium berichtete im Oktober von einem steilen Anstieg sogenannter Hasskriminalität gegenüber Ausländern in England und Wales nach dem Referendum. Im englischen Harlow prügelten Teenager im Sommer einen Polen vor einer Pizzeria zu Tode, als sie ihn Polnisch sprechen hörten.

„Bis zum Juni war es immer ein tolles Gefühl, dass Großbritannien irgendwie ein offeneres Verhältnis zum Rest der Welt hatte als andere Länder“, sagt Weiß. „Ausländer gehörten dazu. Aber seit dem Referendum hat sich etwas verschoben.“

Kiosk am Themse-Ufer

Weiß kam Anfang der 90er nach Großbritannien. Sie hatte ihr Wirtschaftsstudium beendet und wollte nur ein paar Monate bleiben. Mittlerweile sind es 23 Jahre. Die Idee mit dem Restaurant kam ihr nach der Geburt ihres ersten Kindes. Als sie 2004 aus dem Erziehungsurlaub zurückkehrte, war ihre Stelle in der britischen Dependance eines deutschen Softwareunternehmens weg. Sie hatte zwar noch Arbeit, aber keine, die ihr gefiel.

3 Millionen Ausländer, davon 300.000 Deutsche, leben im Land

Als der Bezirk Richmond eine Bude am Ufer der Themse zur Vermietung ausschrieb, bewarben sich Weiß und ihr Mann mit dem Konzept eines „Bayerischen Biergartens“. Sie gewannen die Ausschreibung überraschend. Keiner der beiden hatte Erfahrungen in der Gastronomie. Das Bier schäumte anfangs über und die Würstchen brannten an, doch die Kunden schien es nicht zu stören. 2012 eröffnete Weiß ein zweites Restaurant flussaufwärts in Kingston.

In den südwestlichen Vororten Londons längs der Themse prägen Familien und gepflegte Vorgärten das Bild. Die Gegend ist wohlhabend, Gehalt und Bildungsstand der Bewohner liegen deutlich über dem Londoner Durchschnitt. Wer die gewundene Straße zum Aussichtspunkt über der Themse erklimmt, kann unverstellt den Blick auf die Themse bewundern, fast so, wie ihn William Turner Anfang des 19. Jahrhunderts malte. Eine Aussicht, die den Besitzern der Stadtvillen auf dem Richmond Hill hunderte Millionen Wert ist.

Weiß und ihr Mann leben am anderen Ufer der Themse etwas bescheidener, er betreibt ein eigenes Architekturstudio und ist auf Anbauten nach deutschem Vorbild spezialisiert. Ein Hit in London. Die Kinder der beiden besuchen die deutsche Schule in Richmond. Eine gelungene Integration in eine der vielen Communitys der Stadt, die, ineinander verwoben, die liberale Londoner Gesellschaft bilden. „Ich bin nie nach Großbritannien gekommen, weil ich komplett britisch sein wollte“, sagt Weiß. „Ich bin hierhergekommen, weil es lustig ist, deutsch zu sein und etwas beizutragen.“

Existiert der „Chor der Stimmen“ noch?

Gesetzlich verordneter Patriotismus widerstrebt den Briten eigentlich. Man ist Teil einer Nation mit gemeinsamen Werten, nicht einer gemeinsamen Leitkultur. Vom „Chor der Stimmen, die unsere Nation bilden“, ist in der Präambel der Verfassung die Rede. Die Unabhängigkeitspartei Ukip stellt dieses Credo in Frage und hat Erfolg damit. Das Experiment des Multikulturalismus sei gescheitert, wiederholte Ukip-Funktionär Nigel Farage vor dem Referendum im Juni ständig, es sei Zeit, die Kontrolle über Grenzen und Einwanderung zurückzugewinnen.

Harlow, wo der Pole Arek Jozwik erschlagen wurde, ist nur 30 Meilen von London entfernt. Hier haben mehr als zwei Drittel der Menschen den EU-Austritt befürwortet. In der britischen Hauptstadt dagegen stimmten die Einwohner mehrheitlich für den Verbleib Großbritanniens in der EU; jeder dritte Einwohner hat ausländische Wurzeln.

Doch auch in der „Londoner Bubble“ ist die gestiegene Fremdenfeindlichkeit spürbar. Sie sei mehrfach beschimpft worden, erzählt Rosalie Schweiker, die seit elf Jahren als freischaffende Künstlerin in London lebt. Als sie neulich auf der Straße mit ihrer Mutter in Bayern telefonierte, habe ihr jemand zugerufen „Go home.“

Im früheren Arbeiterbezirk Hackney, den erst Künstler und dann die Makler entdeckten, trifft sich Schweiker jeden Montag mit Freundinnen. Die fünf Frauen, zwei mit britischem Pass, planen eine landesweite Kampagne gegen Fremdenfeindlichkeit. Nach Hause gehen? Kommt nicht in Frage für Schweiker. „Das ist es, was Leute wie Nigel Farage möchten.“

Deutsche Wissenschaftler: größte Gruppe

Vielleicht doch, überlegt Nicole Janz. „Wir denken schon darüber nach, ob wir nicht nach Berlin ziehen sollten.“ 2009 kam Janz nach Großbritannien, promovierte an der Universität Cambridge und ist seit dem Sommer fest angestellte Assistant-Professorin an der Universität Nottingham. Unter den ausländischen Wissenschaftlern stellen die Deutschen die größte Gruppe, viele von ihnen angelockt durch die verlässlicheren Karrierewege im angelsächsischen System.

Janz und ihr Mann, gleichfalls ein Wissenschaftler, haben vor einem Jahr ein Haus in Cambridge gekauft, ihre zweijährige Tochter wächst zweisprachig auf. Sie haben in Großbritannien Wurzeln geschlagen. Und dennoch. „Man wird in letzter Zeit wieder häufiger daran erinnert, dass man Ausländerin ist.“ Bei einem Kneipenbesuch wies die Barfrau sie zurecht, dass man in Großbritannien „bitte“ und „danke“ sage. „Wird meine Tochter irgendwann auf dem Spielplatz angefeindet, weil sie Deutsch spricht?“, fragt sich Janz.

Es ist nicht nur das Gefühl, plötzlich weniger dazuzugehören. Es sind auch handfeste Fakten, die Janz zur Rückkehr bewegen könnten. Die Universitäten könnten nach dem Brexit einen Gutteil ihrer Forschungsgelder verlieren, wenn die EU-Milliarden aus dem Forschungsförderprogramm Horizon 2020 nicht mehr fließen. Für Wissenschaftler wie Janz, deren Recherchen und Personal über solche Drittmittel finanziert werden, bedeutet es, dass der Wettstreit um die Fördertöpfe härter wird.

„Brexit-Aufschlag“

Bele Weiß spürt bereits erste ökonomische Folgen des EU-Austritts. Ihre britischen Lieferanten berechnen ihr seit neuestem einen „Brexit-Aufschlag“: Der Verfall des Pfunds macht Importe teurer. „Im nächsten Jahr werden wir die Preise erhöhen müssen“, sagt sie. Darüber, nach Deutschland auszuwandern, denkt Weiß nicht nach. Stattdessen geht sie in die Offensive. Auf den Tischen im Restaurant ließ sie Fähnchen aufstellen: „Wenn ihr das Stein’s liebt, stimmt für Remain.“

Nach dem Referendum ist sie zum ersten Mal in ihrem Leben in eine Partei eingetreten. In ihrem Bezirk, im bürgerlichen Richmond Park, fanden Ende November Nachwahlen fürs Unterhaus statt, die in einer lokalen Brexit-Abstimmung kulminierten. Der bisherige Abgeordnete hatte sein Mandat aus Protest niedergelegt, weil seine Partei, die Tories, den Ausbau des Flughafens Heathrow beschlossen hatte. Er stellte sich, diesmal als unabhängiger Kandidat, erneut zur Wahl. Der überzeugte Brexit-Befürworter, vor einem Jahr noch deutlicher Wahlsieger, verlor überraschend gegen eine politische Newcomerin von den Liberaldemokraten – die im Unterhaus gegen den Brexit stimmen will.

Das frisch rekrutierte LibDem-Mitglied Weiß stürzte sich in den Haustürwahlkampf und klapperte die Läden von Richmonds Hauptgeschäftsstraße ab. Sie rannte offene Türen ein. „Sieh dich um, sagten mir die Ladenbesitzer. Ich bin der einzige Engländer im Laden. Hier arbeiten nur Immigranten. Ohne sie könnten wir unser Geschäft gar nicht am Laufen halten.“

Weder in Deutschland noch in Großbritannien sei sie jemals politisch aktiv gewesen, sagt Weiß. Seit dem Sommer ist sie es umso mehr. „Meine Familie ist schon genervt, weil ich kein anderes Thema als den Brexit mehr kenne. Aber was soll’s. Ich kann einfach nicht mehr nur zuschauen, wie sich meine Wahlheimat selbst ruiniert!“

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2 Kommentare

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  • Urigkeit? Holztische aus München? Obatzter und Weißwurst?? Jodler und Dirndl??? Das kenn ich unter bayrisch, nicht unter typisch deutsch! Sehr vermessen, dieser Artikel.

    • @AmBall:

      Ist Bayern also kein Teil der Republik (egal ob es gefällt oder nicht)? Auf dieser Argumentationsbasis ist es auch nicht typisch Bayerisch sondern Oberbayerisch.