piwik no script img

Größenwahn Die Hamburger Handelskammer hat immer gern Einfluss auf die Politik genommen. Nicht zufällig bildet ihr Gebäude mit dem Rathaus einen GebäudekomplexNabel des Nordens

von Sven-Michael Veit

Sie sieht sich als Motor des Nordens: die Hamburger Handelskammer. Und deshalb machen ihre Pläne nicht an den Stadtgrenzen Halt, und auch über die Metropolregion Hamburg denkt sie weit hinaus. Im Jahr 2030, so hieß es vor vier Jahren in ihrem Zukunftsplan, müsse Hamburg „das wirtschaftliche und politische Zentrum Nordeuropas“ sein. Auf fast 200 Seiten skizzierte diese umfangreiche Studie im Januar 2011, „was zu tun ist, um für die Zukunft unseres Standortes heute die Weichen richtig zu stellen“.

Die Formulierung stammte noch vom damaligen Kammerpräses Frank Horch – sechs Wochen später wurde der parteilose Horch Senator für Wirtschaft, Verkehr und Innovation im SPD-Senat des frisch gekürten Bürgermeisters Olaf Scholz und ist dies noch immer: Kürzer und direkter kann der Draht zwischen Senatskanzlei und Handelskammer nicht sein.

Hauptanliegen der Studie „Hamburg 2030“ war es, „die zweitgrößte Stadt der viertgrößten Volkswirtschaft der Welt aus dem selbstgefälligen Schlaf der Schönen zu wecken“. Dafür müssten „infrastrukturelle Grundbedingungen“ geschaffen werden, wie Kammer-Hauptgeschäftsführer Hans-Jörg Schmidt-Trenz bei der Präsentation klarstellte: der Bau der Fehmarnbelt-Querung zwischen Dänemark und Schleswig-Holstein, deren Anbindung bis Hamburg mit vierspuriger Autobahn und zweigleisiger Bahnstrecke, der Ausbau der Autobahn A20 nördlich um Hamburg herum samt Elbtunnel bei Glückstadt und weiter durchs nordwestliche Niedersachsen bis Oldenburg, eine Elbbrücke bei Geesthacht östlich von Hamburg als Teil einer Autobahn A21 von Kiel nach Lüneburg, der Ausbau der Bahnstrecken für ICEs und Güterzüge zwischen Bremen, Hamburg und Hannover, der Ausbau des Nord-Ostsee-Kanals und die Ausbaggerung von Elbe und Weser von den Häfen Hamburg und Bremen bis zur Nordsee.

Diese Studie, die Hamburgs Handelskammer als Nabel des nordeuropäischen Wirtschaftsraums zwischen Skandinavien und Benelux sieht, war das gewichtigste Beispiel für die Versuche, die Politik im Norden vor sich her zu treiben. Seit Jahrzehnten nimmt die Kammer durch Stellungnahmen und Gutachten direkten Einfluss auf praktische Politik in Hamburg und dem Umland – Stadtentwicklung und Straßenbau, selbst eine Gondelbahn von St. Pauli über die Elbe zur Internationalen Gartenschau in Wilhelmsburg 2013 war der Kammer ein Anliegen.

Auf Seiten von Vattenfall und Eon Hanse

Diese Studie, die Hamburgs Handelskammer als Nabel des nordeuropäischen Wirtschaftsraums zwischen Skandinavien und Benelux sieht, war das gewichtigste Beispiel für die Versuche, die Politik im Norden vor sich her zu treiben

Beim Volksentscheid zur Rekommunalisierung der Energienetze 2013 schlug sie sich auf die Seite der beiden Großkonzerne Vattenfall und Eon Hanse – nicht auf die der Tausenden Gewerbetreibenden, die diesen beiden Oligarchen als machtlose Kunden gegenüberstanden. Fast 200 Expertisen hat die Kammer bislang verfasst oder in Auftrag gegeben, zuletzt Pläne für die Verlegung der innerstädtischen Hauptverkehrsachse Willy-Brandt-Straße unter die Erde.

Und als Sahnehäubchen obendrauf hatte sich die Kammer die Olympischen Spiele 2024 in Hamburg vorgestellt, um „einen Sprung in der wirtschaftlichen Attraktivität der gesamten norddeutschen Region“ zu erzielen. Eine Idee, die bekanntlich im November 2015 bei einem Referendum von den HamburgerInnen begraben wurde. Die beiden Hauptgründe: allgemeines Misstrauen gegenüber Sportfunktionären zu Zeiten der Korruptionsvorwürfe gegen das Internationale Olympische Komitee und den europäischen Fußball-Monarchen Sepp Blatter sowie die unklare Finanzierung des Milliardenprojekts, gegen das die seinerzeit noch im Bau befindliche Elbphilharmonie wie ein Schnäppchen wirkte. „Hamburg hat sich selbst um eine Jahrhundertchance gebracht“, kommentierte damals Kammerpräses Fritz Horst Melsheimer schwer enttäuscht.

All diese Visionen, gerade auch die von Olympischen Spielen, waren mitgetragen worden von den Industrie- und Handelskammern in Schleswig-Holstein, Bremen und im nördlichen Niedersachsen. Denn auch sie denken an Leuchtturmprojekte, auch sie denken in Korridoren entlang von Autobahnen, die sie „Wachstumsachsen“ nennen. Deshalb war und ist für norddeutsche Kammern die A1 der entscheidende Verkehrsweg „als Kernstück der Metropolverbindung Ruhrgebiet-Bremen-Hamburg-Kopenhagen“. Sie verbinde „Güter und Märkte, Technologien und Unternehmen, Menschen und Ideen“ und sei damit „Motor der wirtschaftlichen Entwicklung“ in der Region, schwärmten die Kammern Lübeck und Hamburg schon vor Jahren in einem gemeinsamen Papier. Das „Scharnier für die Handelsströme von und in den Ostseeraum“ bildeten die Häfen von Hamburg und Lübeck. Dies, so die Kammern, sei „Denken in Wirtschaftsräumen“.

Annäherung in vertraulichen Gesprächen

Aber auch das Denken in persönlichen und politischen Beziehungen beherrschen Handelskammern wie die Hamburger bestens. Im November und Dezember 2010 hatten sich Bürgermeister Scholz und Kammerpräses Horch in mehreren vertraulichen Gesprächen inhaltlich und persönlich angenähert. Prompt lobte Horch an Silvester in seiner traditionellen Ansprache im Großen Börsensaal der Handelskammer vor 2.000 geladenen Gästen aus Wirtschaft und Politik Scholz ausdrücklich für dessen frühere Tätigkeit als Bundesarbeitsminister in Berlin.

Und nicht zufällig hatte dieser sich zwei Wochen zuvor, am 17. Dezember 2010, im selben Saal erstmals zum Bürgermeisterkandidaten der SPD küren lassen: Es war das erste und bislang einzige Mal, dass ein Parteitag Hamburger Sozialdemokraten in der Handelskammer stattfand – die SPD-Basis durfte schon mal die Atmosphäre dort schnuppern.

Rathaus und Handelskammer bilden in Hamburg einen Gebäudekomplex um einen gemeinsamen Innenhof – was Vorderhaus und was Hinterhaus ist, ist in der Stadt durchaus umstritten. Fakt ist: Die Handelskammer steht schon seit 1841 an ihrem Platz. Das Rathaus wurde erst 1897 angebaut. 

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen