Grönemeyer auf Berliner Weihnachtsmarkt: Überraschung am zweiten Advent

Sie kamen zum Glühweintrinken und sahen Herbert Grönemeyer. Ein Eventbericht vom Lucia Weihnachtsmarkt in Berlin.

Herbert Grönemeyer mit Mikrofon umringt von singenden Menschen

Er kam, sah und sang: Herbert Grönemeyer auf dem Berliner Lucia Weihnachtsmarkt Foto: Jörg Carstensen/dpa

BERLIN taz | Prenzlauer-Berg, zweiter Advent, kurz nach halb sieben. Das Karussell steht still, Kameraleute haben sich in Stellung gebracht. Eine Ansammlung von Leuten, die gewittert haben, hier wird gleich was passieren, haben ihre Smartphones rausgeholt. Die Leute tuscheln, stellen sich auf die Zehenspitzen. Alle warten, ohne zu wissen, worauf. Eine, zwei, drei Minuten vergehen. Dann schwillt er an, der Chorgesang, und allen wird klar: Sie sind in einem Traum gelandet, und zwar in einem von Herbert Grönemeyer.

„Nebel verfängt im Laternenlicht, ein Winternachtstraum, der auf der Stelle tritt“, stimmt der Überraschungsgast sein Lied „Kaltes Berlin“ an. An Ort und Stelle bleiben die Zu­hö­re­r:in­nen stehen. Manche schmunzeln darüber, Teil eines Auftritts zu sein, der inmitten des Weihnachtsmarktgetümmels so ernst ist. Schließlich ist das hier keine schnelle Nummer (von denen es auf Grönemeyers neuestem Album einige gibt), sondern eine Ballade, zu der bei einem Konzert alle rasch die Feuerzeuge rausholen würden. Nur darauf war hier niemand vorbereitet; keiner hat teure Tickets erworben und ist ewig Schlange gestanden.

Das Gesangserlebnis Herbert Grönemeyer gibt's an diesem Sonntagabend gratis und ungefragt. Es ist so eindringlich, dass keiner dringend weg möchte. Sogar der Mann, der zwischendurch „Buh“ruft, bleibt bis zum Ende der Zugabe. „Digga, ikonisch“, raunt eine Teenagerin, als Grönemeyer sein Stimmvolumen bis zum Geht-Nicht-Mehr aufbläst- und in das „Aaaaaaaah“ des Engelschors hinein. Und während die sanfte Piano-Melodie aus den Lautsprechern perlt, stellt sich plötzlich ein ganz sonderbares Ortsgefühl ein.

Am Kreuzpunkt zwischen Karussell und Nudelstand ist das Publikum plötzlich „im kalten Berlin“ gelandet und „vielleicht“, endet Grönemeyer „sind wir morgen längst nicht mehr hier“. Ob er damit auf die Sterblichkeit oder auf die Bedrohungslage durch Klimakrise und Rechtsruck anspielt – gegen beides setzt er sich ein – verrät er nicht. Denn er hält am Ende des Songs keine Rede, sondern liefert ein Bekenntnis: Das „B“ in Herbert stünde nicht nur für „Bobo“, sondern auch für „Berlin“, sagt er und stimmt eine Zugabe an.

Bobo statt Bochum

Die Publikumsumfrage danach ergibt: Kerstin, die auf über zwanzig Konzerten und laut ihrem Mann zwischendurch zu Tränen gerührt war, findet ihn nicht Bobo-mäßig, sondern bodenständig, schließlich hätte er sich an einem Sonntagabend einfach mal so unter die Menge gemischt. Jonas und Micha wundern sich, dass Grönemeyer in Berlin und nicht in Bochum aufgetreten ist. Das ist die Stadt, nach der sein erstes Hit-Album benannt ist. Eine Gruppe Teenies, die ein Autogramm ergattert hat und ihn bis dato nicht kannte, verspricht: „Wir werden krasse Fans. Wir haben ihn auf Spotify geaddet“.

Bei einem abschließenden Selfie-Zwischenstopp grüßt Grönemeyer die Mitarbeiterinnen seines Merch-Standes und erscheint plötzlich als Drilling. Seine Doppelgänger tragen Weihnachtsmütze und grinsen auf den Pullis der Verkäuferinnen. „Herbert!“, raunt eine vorbeilaufende Touristin mit rollendem „r“. Das Original wird, von Bodyguards umringt, aus der Hütte geschleust. Aber die Menge hat sich ohnehin längst aufgelöst und ist rasch zu den Ständen ausgeschwärmt.

In einer Woche wird das filmische Dokument ihres kurzen Beisammenseins erscheinen. Dann wird der Auftritt eine gelungene PR-Aktion für den Single-Release von „Kaltes Berlin“ (prod. Lucry & Suena) gewesen sein. An diesem Sonntagabend ist der Auftritt aber erstmal eins: Anti-These, das „Kalte Berlin“ tritt immerhin gegen heißen Glühwein an.

Trotzdem wirkt der Auftritt versöhnlich, spätestens als Grönemeyer im Refrain das lyrische Ich gegen ein „Wir“ austauscht. Ein Wir, das in eine Zukunft schaut, in der es „unser Berlin“ vielleicht nicht mehr geben werde. Grönemeyer versucht einen kollektiven Moment aus etwas zu stiften, das er als gemeinsamen Nenner ausmacht: Zukunftsangst. Dass die meisten Leute den Auftritt nicht als Stimmungskiller, sondern als schön empfinden, das ist wohl seine große Kunst.

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