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Griff nach den Sternen

Berlin ist pleite, Berlin ist ratlos. Die Blindenanstalt in Kreuzberg ist da schon weiter

von VERENA KERN

Blindenanstalt in Berlin, im hinteren Kreuzberg, in der Oranienstraße. Riesenkasten, aus dem vorletzten Jahrhundert, ähnelt architektonisch dem Künstlerhaus Bethanien, paar Meter weiter am Mariannenplatz. Heller Backstein, keine Schnörkel, sieht aus wie eine Art Burg.

Jeden Tag fahre ich auf dem Weg zur Arbeit mit dem Fahrrad an der Blindenanstalt vorbei. Frage mich immer wieder, was ist da eigentlich in dem Kasten? Sah auch schon mal unterm Dach Fahnen hängen, eine Deutschland- und eine Europafahne. Städtisches Gebäude, klar, aber sonst?

Ich bin mit meinen Kindern unterwegs, Kitaferien, und einen Freund haben sie auch noch mit dabei, wir sind zu viert. Gehen die Stufen hoch, in den Laden der Blindenanstalt, schlichter Verkaufsraum, altes Mobiliar, eine Mischung aus Kolonialwarenladen und Tante-Emma-Lädchen. Bürsten und Besen, Körbe und Matten. Es ist ein heißer Tag, im Rucksack habe ich eine große Flasche Wasser, für alle Fälle.

„Wollen Sie sich erst mal umschauen?“ fragt mich der Verkäufer. Schnauzbart, Brille, verblüffend gute Laune. „Nee“, sage ich, „ich habe einen Termin mit Frau Hensel“. Wieder geht es Treppen hinauf. Die Wände sind in hellen Farben gestrichen, viel Gelb, das wirkt sonnig. Frau Hensel ist die Leiterin der Blindenanstalt. Sitzt im ersten Stock, hat viel zu erzählen, lässt sich nicht mal irritieren von der Kinderprozession, die ich anführe.

Ursprünglich war die Blindenanstalt eine Blindenschule, 1878 gegründet, nächstes Jahr ist also 125. Jubiläum. Saß damals noch in der Alten Jakobstraße. Anfang des letzten Jahrhunderts, mit dem Wechsel in die Oranienstraße, kamen auch Werkstätten dazu und dann auch der Laden. Weberei und Mattenflechterei, aber die gibt‘s schon gar nicht mehr. Korbflechterei und Bürstenmacherei, die gibt‘s immer noch und damit das ganz alte Handwerk.

Die Kinder drängen sich an mich, und es geht los mit der Besichtigung, durch gelbe Gänge, zur Einzieherei, wo Bürsten, Besen, Pinsel hergestellt werden. Sind kaum Leute da, Urlaub, natürlich. „Und heut‘ Mittag“, sagt Frau Busse, „geb‘ ich meinen Leuten dann hitzefrei.“ Frau Busse ist die Leiterin der Einzieherei, seit dreißig Jahren schon in der Blindenanstalt, hat dort auch den Beruf gelernt. „Aber im Oktober“, sagt sie, „ist Schluss, dann gehe ich in Rente.“

Auch die Blinden und Behinderten, die hier arbeiten, erwerben sich eine Rente, nach zwanzig Jahren. 46 Leute sind es insgesamt, davon zwanzig in der Einzieherei. Gestempelt wird, als würden sie einen Haufen Geld verdienen, sagt Frau Busse, tatsächlich sind es oft nur ein paar hundert Euro, je nachdem, wie viel produziert wird.

Die Fenster zur Oranienstraße sind geöffnet, ein Radio läuft, es ist heiß, und ich hole zum ersten Mal die Wasserflasche raus. Große Räume, viel Platz, nur wenige Arbeitsplätze pro Zimmer, Werkbänke, sehen fast aus wie alte Nähmaschinenkästen, darauf die Maschinen, die eindeutig aus einer anderen Zeit stammen.

Damit werden die Borsten eingezogen. Immer ein Büschel Borsten, Draht und dann durch die Löcher des Holzes. Oder Rosshaar oder Ziegenhaar oder Kokos. Das teuerste sind Schweineborsten, die kommen aus China. „Wie viele Besen machen Sie denn am Tag?“ frage ich die Frau an der Maschine. „Fünf“, sagt sie und lächelt. 168 Löcher hat der Besen. 168 Mal einziehen.

Und das ist der Unterschied. Bei einer Fabrikbürste wird nur geklebt, irgendwann fallen die Borsten aus, und die sind sowieso meistens nur aus Plastik. Aber so wird es eben billig. Wer kauft denn noch eine handgemachte Bürste? „Mit einem Schrubber“, sagt Frau Hensel, „können Sie keinen Blumentopf mehr gewinnen.“

Die Kinder werden langsam unruhig, die Jungs sagen zum ersten Mal, wann gehen wir endlich wieder? Da taucht ein Mann mit einer großen Bonbonnière auf, spendiert den Kindern Süßigkeiten. „Wundern Sie sich nicht“, sagt Frau Busse, „wenn der Mann mal zu mir ‚Schatz‘ sagt, wir sind nämlich verheiratet.“ Dass beide dasselbe Medaillon tragen, hatte ich gesehen, aber nicht, dass der Mann stark sehbehindert ist.

Ab Mitte der Neunzigerjahre wurde es für die Blindenanstalt ernst. Bis dahin hatten die Bezirksämter den größten Teil der Bürsten und Besen gekauft, aber die putzten nun nicht mehr selbst, sondern engagierten dafür Privatfirmen.

Jetzt fängt die Aschenputtelgeschichte an. Eine Gruppe junger Designer um die Agentur Vogt + Weizenegger schlug der Blindenanstalt 1998 ein gemeinsames Projekt vor, DIM, Die Imaginäre Manufaktur. Entwürfe der Designer, von der Blindenanstalt gefertigt. Bürsten als Eierbecher, als Lampen, als Schmuckkästchen oder CD-Halter. Kollektion auf verschiedenen Messen vorgestellt, Aufsehen erregt, internationale Anerkennung. Heute machen die DIM-Produkte siebzig Prozent des Umsatzes der Blindenanstalt aus.

Wann gehen wir endlich weiter, fragen die Jungs schon wieder, und meine Tochter greift nach der Wasserflasche. „Ja, ja“, sage ich.

Also weiter, über Treppen, Blick in den Hof, den Frau Busse begrünt hat, durch helle Gänge ins Hinterhaus, zur Korbflechterei. Schwüle Luft, fast tropisch, großes Wasserbassin in der Ecke des Zimmers, da wird das Material eingeweicht, sonst kann man es nicht verarbeiten, ist zu spröde, bricht dann.

Frau Schröder, die Leiterin der Korbflechterei, zeigt auf die Entwürfe für die neue, die zweite DIM-Kollektion. „The Wicker Games“ heißt das Projekt, Korbspiele, soll noch in diesem Monat auf der Designmesse in Frankfurt am Main vorgestellt werden. Ein Liegestuhl im Form eines großes Blattes, ein Paravent, Einkaufskörbe, ein Iglu für Kinder, sogar ein Go-Cart.

Die Jungs meckern schon wieder. „Gut“, sage ich, „okay.“ Wir verabschieden uns von Frau Hensel, und Frau Schröder führt uns in den Hof, wieder über Treppen, durch Gänge. Im Hof gießt Frau Busse gerade die Blumen, winkt uns noch einmal zu. „Schöner Arbeitsplatz“, sage ich zu Frau Schröder. Und zu den Kindern sage ich: „Kommt, den Rest schauen wir uns das nächste Mal an.“

VERENA KERN, 38, ist taz.mag-Autorin.Weitere Informationen: www.blindenanstalt.de

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