Gregor Gysi über das Altern: „Es gibt Altersrassismus“
Der Fraktionschef der Linken ist gelassener als in seiner Jugend. Ein Gespräch über Eitelkeit, einsame Abendessen und Privilegien des Alters.
taz: Herr Gysi, haben Sie Angst vor dem Alter?
Gregor Gysi: Nö. Ich genieße auch die Privilegien des Alters.
Welche wären das?
Ab sechzig fängt die Zeit an, dass ein junger Mann fragt: Darf ich Ihnen die Tasche tragen? Und man begeht den Fehler, zu sagen: Nee, danke, das kann ich schon noch alleine. Und jetzt sage ich immer: Und den Koffer bitte auch noch. Das muss man aber lernen.
Hat Sie das Alter verändert?
Ja. Komischerweise habe ich heute mehr Geduld als in meiner Jugend, obwohl man da ja mehr Zeit hat. Und ich bin wesentlich gelassener und dadurch vielleicht auch souveräner. Andererseits gibt’s auch Nachteile. Man merkt sich zum Beispiel Dinge immer schlechter. Damit muss man lernen, umzugehen.
65, ist Chef der Linksfraktion im Bundestag und aktuell Spitzenkandidat der Partei Die Linke. Ausgebildet zum Facharbeiter für Rinderzucht, studierte er in den 1960er Jahren Jura und wurde 1971 Rechtsanwalt in Berlin (Ost). Seit Dezember 1989 Vorsitzender der damaligen SED, zog er 1990 für die in PDS umbenannte Partei in den Bundestag ein. Seit 2005 hat er ein Direktmandat.
Gelassener inwiefern?
Es gibt Konflikte im Berufsleben, über die hätte ich mich früher mehr aufgeregt. Da muss heute schon viel mehr zusammenkommen. Ich lese auch nicht mehr alles, was über mich geschrieben wird. Erst wenn ich zum zweiten Mal darauf angesprochen werde, denke ich, es scheint doch wichtig zu sein. Ich kann auch Auseinandersetzungen inzwischen besser durchstehen. Im Rückblick finde ich: Das schlimmste Alter ist zwischen fünfzig und sechzig.
Ach ja?
Tja, das ist das einzige Alter, in dem man erwachsen ist. Weil man kein einziges Privileg der Jugend mehr hat und noch kein einziges des Alters. Es gibt überhaupt keine Ausrede. Wenn ich damals sagte: Was denn, fünf Kundgebungen an einem Tag!? Dann haben meine Mitarbeiter gesagt: Wieso, du hast doch die Zeit. Mit unter Fünfzig werden dir noch Sachen verziehen, ab Fünfzig nicht mehr. Und erst mit Sechzig beginnt dann die Zeit neuer Privilegien. Wenn ich heute im Flughafenbus sitze und eine Frau kommt rein, sage ich mir: Mein Gott, du bist jetzt über sechzig. Du kannst doch auch sitzen bleiben.
Ist es peinlich, über Alter zu sprechen? Alt zu sein gilt in der medialen Gesellschaft doch als Malus.
Unsere Gesellschaft leidet an einem Altersrassismus, das ist wahr. In anderen Ländern läuft das anders. In den USA zum Beispiel wären solche Fragen, die Sie mir gerade stellen, verboten, weil diskriminierend. Bei uns läuft es nur in der Politik anders. Nicht wenige Politikerinnen und Politiker glauben, dass sie auch noch mit neunzig im Bundestag rumdödeln können.
Können Sie sich das vorstellen – mit neunzig noch im Bundestag?
Nein, nein, nein, nein. Ich habe mal ironisch gesagt, vielleicht werde ich ja noch Alterspräsident. Aber ich habe schon relativ klare Vorstellungen.
Verraten Sie uns welche!
Ganz bestimmt nicht. Die gehen niemanden etwas an, das sind meine inneren Vorstellungen.
Aber das ist doch ein Politikum.
Jetzt kandidiere ich. Und bleibe selbstverständlich vier Jahre im Bundestag. Da gibt’s keine Abstriche.
Kann es sein, dass Sie unsere Fragen doch als diskriminierend empfinden?
Nein, ich gehe doch mal davon aus, dass Sie wissen, wie alt ich bin. Ich bin in solchen Fragen hemmungsfrei. Das ist wie mit meiner Körpergröße – damit kriegt mich auch keiner.
Im letzten Jahr haben Sie etliche Kilo abgenommen. Warum? Angst vor Kontrollverlust, Eitelkeit?
Ich saß bei mir zu Hause und schaltete durch die Fernsehprogramme. Da sah ich den Kabarettisten Erwin Pelzig und neben ihm saß so ein dickes Schwabbel. Ich guckte genauer hin und stellte fest: Das war ja ich. Da habe ich den Beschluss gefasst, abzunehmen. Das macht mir inzwischen sogar Spaß. Ich habe bei 80 angefangen und bin jetzt bei 66,5.
Wie sieht es mit Einsamkeit aus? Ist die im Alter leichter zu ertragen?
Das weiß ich nicht. Ich war noch nie in meinem Leben wirklich alleine. In diesem Sommer habe ich einen Test gemacht, ich war eine Woche alleine im Urlaub. Das war schwierig. Frühstück allein ist in Ordnung, tagsüber auch alles wunderbar. Aber das Abendessen ist doof. Da sitzen im Restaurant alle beisammen, nur man selbst ist alleine. Zum Glück kamen in der zweiten Woche meine Kinder nach.
Heide Simonis hat, nachdem sie 2005 in Schleswig-Holstein nicht als Ministerpräsidentin wiedergewählt wurde, mal gesagt: Sie schrecke die Idee, auf der Straße nicht mehr erkannt zu werden. Kennen Sie diese Angst?
Ach, ich war ja mal drei Jahre raus aus der Politik, das dürfen Sie nicht vergessen. Ich bin 2002 als Berliner Bürgermeister und Senator zurückgetreten und bin zurück in meinen Anwaltsberuf. Das war eine anstrengende Zeit, ich war ja vorher noch nie Anwalt in der Bundesrepublik Deutschland. Sich mit über fünfzig eine Praxis aufzubauen, ist kompliziert, kann ich Ihnen sagen. Aber es ist mir gelungen, und ich war raus aus der Politik.
Drei Jahre später waren Sie wieder Spitzenkandidat der Linkspartei. Hatten Sie Sehnsucht nach den Scheinwerfern?
Weniger, aber nach einer bundesweiten Linken. Und für mich habe ich seither eine Lösung gefunden. Ich bin heute zu 90 Prozent Politiker, zu 6 Prozent Anwalt und zu 4 Prozent Publizist und Moderator.
Wie finden Sie ehemalige Politiker wie Heide Simonis in TV-Shows wie „Let’s dance“ oder Norbert Blüm in der Rateshow „Was bin ich?“? Ist das peinlich?
Zu Blüm passt das irgendwie. Was Heide Simonis gemacht hat, hätte ich nie getan. Die Redaktion hat mich ja auch angeschrieben.
Warum sind Sie eigentlich sicher, dass Sie den Zeitpunkt für den Ausstieg aus der Politik erkennen?
Im Alter kann es den Punkt geben, da wird man wunderlich und merkt es nicht. Da braucht man Angehörige und gute Freundinnen und Freunde, die das einem sagen. Klar, man ist dann pappesatt mit ihnen, richtet sich aber danach und verzeiht es ihnen selbstverständlich.
Stellen Sie sich das so vor oder wissen Sie, dass es so ist?
Das wird so sein. Ich habe das bei einer ähnlichen Frage erlebt. Ich kenne keinen in der ersten Reihe der Politik, der nicht eitel wäre. Ich bin es auch. Aber wichtig ist: Beherrschst du deine Eitelkeit oder beherrscht sie dich? Wenn sie dich beherrscht, begehst du die gröbsten Fehler. Beispiele von anderen nenne ich Ihnen nicht – aber das ist auch mir passiert. Und da hat mich mal ein Freund beiseitegenommen und gesagt: Gregor, das hast du gerade nur aus Eitelkeit getan. Du musst einen haben, der es dir trotzdem sagt.
Wollen Sie nicht lieber noch etwas Großartiges ohne Politik machen?
Was ist großartig und real? Ich habe ein paar Reiseträume. Letztes Jahr habe ich das erste Mal in meinem Leben einen speienden Vulkan gesehen. So etwas ist ein Wunder! Davon hätte ich gern noch ein paar. Und klar – dafür kann es irgendwann auch zu spät sein.
Macht Ihnen der Tod Angst?
Eher krank zu werden und Alzheimer zu bekommen. Davor graut mir. Ich hoffe, dass es in dem Fall eine Lösung gibt. Meine Mutter hat immer gesagt: Weißt du, die helfen einem bei der Geburt, die müssten einem eigentlich auch beim Sterben helfen. Aber das ist alles leichter gesagt als geregelt und getan. Im Grunde kann man sich auf solche Situationen nicht vorbereiten.
Vielleicht glücklicherweise. Das Einzige, wozu ich wild entschlossen bin, ist: Ich will eine Urne. Nix mit Sarg. Ein Häufchen Asche reicht. Meinen Kindern habe ich mal im Scherz gesagt, sie müssten die Urne am besten über dem Meer ausschütten. Und dann käme sicher ein Windstoß und alle hätten meine Asche in den Augen. Gelacht habe vor allem ich.
Haben Linke eigentlich ein schwierigeres Verhältnis zum Tod, weil sie keinen Begriff von Transzendenz haben?
Wenn man nicht religiös ist, weiß man, dass man einfach in einen Kreislauf der Natur eingeht und wie eine Blume verwelkt und anderen hilft zu blühen. Das lasse ich aber nicht näher an mich heran. Muss nicht sein. Ich war ja schon einmal so krank, dass ich daran hätte sterben können. Und ich bin auch damals nicht religiös geworden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour
Negativity Bias im Journalismus
Ist es wirklich so schlimm?
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen