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Archiv-Artikel

Götter, Geister und Dämonen

Ohne den Beistand freundlicher Kulleraugen: Hayao Miyazakis Zeichentrickfilm „Chihiros Reise ins Zauberland“ schickt die junge Heldin in verstörende Situationen und folgt dabei der Logik des Traums

von MARTIN ZEYN

Die furchtbarsten Träume sind die, in denen ein Aufwachen unmöglich erscheint. „Das muss ein Traum sein“, weint die zehnjährige Chihiro, nachdem sich ihre Eltern in Schweine verwandelt haben. Sie kneift sich und will aufwachen, doch stattdessen beginnt sie sich aufzulösen. Die Welt der Geister und Götter, in die es die Familie Chihiros verschlagen hat, ist stärker als die Wirklichkeit.

Der Beginn von „Chihiros Reise ins Zauberland“ ist beängstigend und verstörend wie kaum ein anderer Zeichentrickfilm. Der Tod von Bambis Mutter, mit dem sich die Disney-Macher am nächsten einer kindlichen Urangst genähert haben, wird sofort durch das Auftreten niedlicher großäugiger Tierfiguren abgemildert. In Hayao Miyazakis neuem Film sterben die Eltern zwar nicht, aber sie verlieren ihren Status, sie sind nicht mehr das, was sie für Kinder sein müssen: ein Halt. Chihiro entkommt nicht der furchtbaren neuen Welt, sie muss sich sogar tiefer hineinbegeben, um nicht ganz zu verschwinden. Der verlassene Vergnügungspark, den die Familie durch einen Tunnel betreten hat, den auch der multiplen Phobien ausgelieferte David Lynch hätte filmen können, hat sich in Aburaya verwandelt, eine Zauberwelt mit einem riesigen Badehaus für Götter, Geister und Dämonen in seinem Zentrum. Chihiro muss ihren Namen abgeben, sie beginnt als niedrige Bedienstete. Auf den Verlust der Eltern folgen Vereinsamung und Erniedrigung. Und nirgends freundliche Kulleraugen.

Der 1941 geborene Drehbuchautor, Regisseur und Zeichner Hayao Miyazaki ist der Doyen der japanischen Zeichentrickfilmer. Mit seinen Animes „Nausicaä aus dem Tal der Winde“ oder „Prinzessin Mononoke“ hat er nicht nur Kassenschlager hervorgebracht, von denen Letzterer in Japan erfolgreicher war als „Titanic“, sondern vor allem das Erzählen vervollkommnet. Das meint nicht unbedingt die ungeheure Sorgfalt, die für Zeichentrickfilme untypische Tiefenschärfe der Hintergründe und den Realismus der Bewegungsabläufe (in Ruhe in der Comicversion zu bewundern, die bei Carlsen unter dem englischen Verleihtitel „Spirited Away“ erschienen ist). Hayao Miyazaki ist ein Meister der klassischen Psychologie und der Ökonomie. So verschwenderisch seine Hintergrundgestaltung, so präzis sind seine Charaktere. Chihiro klettert zu Beginn des Films ängstlich eine Treppe hinab. Später stürmt sie sie hinauf. In den neueren Disney-Filmen wird dieses Überwinden der Angst immer ausgestellt und verbalisiert. Miyazaki hingegen beobachtet seine Figur, er will sie nicht vorführen. So erlaubt er sich auch eine für westliche Augen auffällige moralische Indifferenz.

Eine Figur wie der Geist Ohngesicht hilft eben noch Chihiro, im nächsten Moment aber verwandelt er sich in einen riesenhaften Vielfraß, der nebenbei drei Bedienstete verschluckt. Jedoch schrumpft er nach dem Eingreifen des kleinen Mädchens wieder auf seine einstige Größe und Verzagtheit. Diese moralischen Transformationen betreffen in geringerem Umfang alle Figuren und tragen ebenso zum Magischen der Atmosphäre bei wie die bizarren Fratzen und Gestalten der Götter und Geister. Es herrscht eine Traumlogik vor, in der zwischen zwei Zuständen keine gewohnte, keine rationale Verbindung bestehen muss. Chihiro bewährt sich in dieser Welt, sie besänftigt Ohngesicht durch ihr Mitleid und ihre Weigerung, sein Gold anzunehmen. Erst die Gier der Bediensteten hat ihn zum Monster gemacht, Chihiro verwandelt ihn wieder zu einer traurigen, fast sprachlosen, zutiefst Mitleid erregenden Gestalt. Diese leichthin erzählte Komplexität zeichnet Miyazakis Filme aus. John Lasseter, Regisseur von „Toy Story“, bekennt denn auch freimütig, diese Animes als Handbuch für Problemlösungen zu benutzen.

Nach „Schneewittchen“ ist „Chihiros Reise ins Zauberland“ der zweite Zeichentrickfilm, der auf einem nicht dem Genre vorbehaltenen Festival eine Auszeichnung erhalten hat, 2002 bekam Miyazaki bei der Berlinale den Goldenen Bären verliehen (ex aequo mit Peter Greengrass’ „Bloody Sunday“). Filme wie „Shrek“ erzählen moderner, sie sind selbstironisch und bedienen sich freizügiger aus den Bildwelten von Musikvideos, Eastern und Videospielen, nutzen also die zentrale Potenz des Mediums: die visuelle Unbeschränktheit. So hinreißend „Chihiros Reise ins Zauberland“ auch ist, er wirkt wie ein Schlusspunkt, fast wie ein Epitaph. Schöner, ja vollkommener können die klassischen Muster nicht eingesetzt werden. Es gibt allerdings noch eine Hoffnung: dass Hayao Miyazaki noch weitere Schlusspunkte setzen wird.

„Chihiros Reise ins Zauberland“. Regie: Hayao Miyazaki. Japan 2002, 125 Min.