: „Globalisierung ist täglicher Terror“
Interview HANNES KOCH
taz: Herr Ziegler, Sie geben sich alle Mühe, das Image von Bankern und Konzernchefs zu ruinieren. Bei den Eliten Ihres Heimatlandes sind Sie verhasst. Ihr Lohn wird gepfändet. Nagen Sie am Hungertuch?
Jean Ziegler: Gegenüber einer portugiesischen Putzfrau oder einem Asylbewerber bin ich schon noch privilegiert. Ich habe einen Lehrstuhl in Genf, eine Gastdozentur an der Sorbonne in Paris und das UNO-Mandat als Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Mir bleibt genug zum Leben. Außerdem kann ich kämpfen.
Als Mitglied des globalisierungskritischen Netzwerks Attac warnen Sie davor, mit dem großen Feind, der Welthandelsorganisation WTO, überhaupt zu reden. Könnte man die Leute im Dialog nicht beeinflussen?
Im Augenblick nicht. Die Welthandelsorganisation steht kurz vor ihrer neuen Verhandlungsrunde zur weltweiten Liberalisierung. Sie ist der inkarnierte Neoliberalismus. Das sind Fundamentalisten, die von der absoluten Marktmobilität die Lösung aller Probleme erhoffen. Das Verschwinden der normativen Kräfte des Staates soll Frieden, Freiheit und Wohlbefinden für alle bringen – eine total absurde, irrationale Vorstellung. Die wird dementiert von allen Sozialindikatoren, die wir haben. Bei 71 der 122 Entwicklungsländer ist in den letzten Jahren das Pro-Kopf-Einkommen zurückgegangen.
Gegenbeispiel: Das rechnerische Pro-Kopf-Einkommen in einigen arabischen Staaten – Ägypten und Jordanien etwa – ist in den Neunzigerjahren ähnlich stark gestiegen wie in Deutschland.
Das ist nur in wenigen Ländern so. Die Marginalisierung der ärmsten Länder erscheint deutlicher denn je. Da muss man demonstrieren wie in Seattle und kann nicht mit den Chefs der WTO hinter verschlossenen Türen zusammensitzen.
Kann man nicht beides machen: diskutieren und demonstrieren?
Nein, das kann man nicht. Aus einem ganz einfachen Grund: Der Generalrat der WTO hat beschlossen, dass zwei Grundforderungen von Attac, die Öko- und die Sozialklausel, bei den kommenden Verhandlungen im Emirat Katar gar nicht thematisiert werden. Die WTO schert sich nicht um Kinder- und Zwangsarbeit.
Wie würde sich der Welthandel ändern, wenn ökologische und soziale Mindestkriterien festgelegt würden?
Nehmen Sie die Kinder, die im pakistanischen Hindustal Seidenteppiche herstellen. Viele von denen werden mit der Zeit blind.
Wieso erblinden diese Kinder?
Weil sie in dunklen Räumen sitzen und mit den Augen direkt über ihrer Arbeit hängen. Gäbe es eine Sozialklausel, würde Pakistan mit einer hohen Konventionalstrafe belegt, wenn es die Teppiche ausführt. Oder Importländer wie Deutschland könnten Einfuhrzölle erheben, die die Produkte zu teuer machten. Dadurch könnte ein Druck entstehen, dass die pakistanischen Hersteller die Arbeitsbedingungen verbessern. Wir brauchen unbedingt internationale Regelungen, die grundlegende Sozial- und Menschenrechte in der Ökonomie durchsetzen.
Und warum weigert sich die WTO, die Kinder zu schützen?
Der europäische Handelskommissar Pascal Lamy, der ja an sich kein schlechter Mensch ist, sagte mir einmal, eine Sozialklausel könne man nicht einführen, weil sie das Prinzip der freien Warenzirkulation verletze. Die Liberalisierung hat für die WTO absolutes Primat. Deswegen hat es keinen Sinn, mit denen zu diskutieren.
Sie beschreiben die gegenwärtige Situation mit den Worten Immanuel Kants als „Abbruchkante der Zeit“. Kant meinte damals die Französische Revolution. Sehen Sie heute Ähnliches?
Am Ende des 18. Jahrhunderts verschwanden eine Staatsform, ein Produktionsmodus und ein Menschenbild. Seit 250 Jahren haben wir nun in der Welt der Aufklärung gelebt, die sich auszeichnet durch die Menschenrechte, die Demokratie und die normative Ökonomie. Jetzt soll das alles liquidiert werden. Der Konsens von Washington zwischen der WTO, dem Internationalen Währungsfonds, der Weltbank und den wichtigsten Wirtschaftsnationen (G 8) verhindert nicht nur eine Stärkung der Menschenrechte, sondern setzt die bisher erreichten Fortschritte außer Kraft. Dieser Konsens hat drei Prinzipien: Privatisierung, totale Mobilität und Entstaatlichung. Weltbank-Chef James Wolfensohn nennt das „stateless global governance“ – die Selbstregulierung der Finanzweltmächte. Das ist die radikale Negation der Werte und Institutionen der Aufklärung. Jetzt kann der Dschungel kommen.
Sie geben den Versuch der weltweiten sozialen Bewegung, genau das zu verhindern, schon verloren?
Es kann passieren, dass der Nationalstaat sich auflöst, bevor ein neues Kollektivsubjekt entstanden ist.
Was sagen uns in dieser Situation die Angriffe auf die USA?
Wenn die Werte der Aufklärung verschwinden, zeigt sich, dass die Zivilisation zerfällt und die antizivilisatorischen Kräfte aus dem Untergrund aufbrechen. Dann gibt es nur noch den Dschungel, in dem die Bin Laden und die Bushs herumlaufen, die sich auf die Brust klopfen: „Ich bin die Zivilisation. Deshalb bombardiere ich die Barbaren.“
Der vom Neoliberalismus ausgelöste Verfall der Werte und Institutionen leistet dem Terrorismus Vorschub?
Was in New York geschehen ist, der Massenmord an arbeitenden Menschen aus 62 Nationen, ist ein ganz fürchterliches, durch nichts zu entschuldigendes Verbrechen. Das muss geahndet werden durch Polizei und Gerichte. Aber einordnen muss man das trotzdem, sonst macht man seine Arbeit als Intellektueller nicht. Es ist der zweite 11. September. Am selben Tag ist 1973 der chilenische Präsident Salvador Allende gestürzt worden. Später wurden 20.000 Menschen ermordet: auf Initiative der US-Regierung und der chilenischen Minenbarone, die die Verstaatlichung ihrer Geschäfte verhindern wollten.
Sie behaupten also, der eine 11. September sei die Voraussetzung des anderen?
Teilweise ja. 1973 war nicht das letzte Mal, dass die US-Politik eine eisige Normalität des Todes hervorbrachte. Seit vier Wochen bombardieren die USA nun Afghanistan. In dieser Zeit sind vielleicht 10.000 Kinder dort an Hunger gestorben.
Woher wissen Sie das?
Vor den Bombardierungen hatten 7,8 Millionen Afghanen keine eigene wirtschaftliche Existenz mehr. Sie wurden von Hilfsorganisationen mit Lebensmitteln versorgt. Jetzt stehen die Lastwagenkonvois der UNO mit Lebensmitteln in Pakistan und können nicht hinein. Und schwache Menschen sterben nach acht oder neun Tagen.
In Ihrer Funktion als Sonderberichterstatter der UNO schreiben Sie, dass über 800 Millionen Menschen auf der Erde stark unterernährt sind. Gruppen wie Attac führen das auch auf die Auswirkungen der neoliberalen Globalisierung zurück. Ein richtiges Argument?
Der World Food Report der UNO sagt, dass die heutige Landwirtschaft grundsätzlich in der Lage wäre, 12 Milliarden Menschen mit 2.700 Kalorien pro Tag zu ernähren. Das passiert nicht – ein stiller Völkermord, der strukturell bedingt ist. Reis zum Beispiel wird gehandelt wie jede andere Ware auch. Seinen Preis setzen die Händler an der Commodity Stock Exchange in Chicago fest, der Warenbörse. So kommt der Weltmarktpreis zustande. Und viele Länder können diesen Preis nicht bezahlen.
Müsste man den Börsen und Märkten die freie Preisbildung für Grundnahrungsmittel entziehen?
Ja. Denn von 52 afrikanischen Staaten können sich 37 nicht selbst ernähren. Doch Ernährung ist ein Grundbedürfnis. Es gehört zu den unveräußerlichen Rechten und sollte deshalb politisch abgesichert werden: durch eine internationale Konvention.
Seit den Siebzigerjahren wurden die internationalen Finanztransaktionen liberalisiert. Ist der Neoliberalismus also für den Hunger verantwortlich?
Er ist die primäre Ursache.
Liegen die Gründe nicht eher bei den Regierungen der Entwicklungsländer, in denen sich die Eliten auf Kosten der Mehrheit bereichern?
Korruption und Pfründenwirtschaft gibt es natürlich auch. Warum sonst herrscht Hunger in Nigeria, dem sechstgrößten Ölexporteur der Welt? Aber der globale Markt hat die wichtigere Rolle. Der hochanständigen Regierung von Niger fehlen pro Jahr 160.000 Tonnen Mais. Die muss sie zusammenbetteln, weil der Weltmarktpreis zu hoch ist.
Die Globalisierung wird nicht nur dafür verantwortlich gemacht, dass weltweit soziale Konflikte zunehmen, sondern auch dafür, dass daraus Gewalt und Terrorismus entstehen. Nun ist aber kaum eine Region der Welt so abgeschirmt vom Weltmarkt wie der Nahe Osten. Wie passt das zusammen?
Ich sage nicht: „Globalisierung produziert den Terror.“ Globalisierung ist täglicher Terror, ein Zustand von Angst und Tod. Die Monarchie von Saudi-Arabien mag ökonomisch wenig globalisiert sein, trotzdem ist sie in das System eingespannt. Die Menschenrechte zählen dort nichts, die Gastarbeiter werden erniedrigt. Und niemand kann daran rühren, weil Amerika es verbietet. Die globale Macht erhält ein Verbrecherregime am Leben.
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