Gisela von Wysockis Frankfurt-Buch: Der erotische Adorno
Gisela von Wysocki studiert bei Adorno und lernt ihn als irgendwie dämonisch kennen. „Wiesengrund“ ist fabelhaft erzählt – aber kein Roman.
Was für ein stilistisch origineller, was für ein informativer und atmosphärisch dichter kleiner Roman über Theodor W. Adorno und das universitäre Frankfurt der sechziger Jahre! Ist es eigentlich ein Roman? Der Sachgehalt der entscheidenden Passagen dieses Buchs ist autobiografisch.
Gisela von Wysocki hat bei Adorno studiert und lernte ihn als eine einerseits väterliche, andererseits irgendwie dämonische Respektsperson auch persönlich kennen. Wozu beigetragen haben mag, dass Adorno, wie ihm übereinstimmend nachgesagt wird, für die weiblichen Reize seiner Studentinnen intensiv empfänglich war, wenngleich seine Neigung zu ihnen – wie in „Wiesengrund“ sehr komisch geschildert wird – nur zu eigenartig fahrigen platonischen Manövern führte.
Eine sprachlose (und bei Licht betrachtet eigentlich furchtbar peinliche) Einladung zum Eisessen ins Café der Frankfurter Hauptwache und der gemeinsame Besuch einer Zoohandlung auf Vorschlag des Professors gehören mit aus dem Leben gegriffen wirkenden Beschreibungen erotischen und intellektuellen Aneinandervorbeiredens zu den erzählerischen Höhepunkten des Buchs.
Hanna Werbezirk, wie die weibliche Heldin des Buchs heißt, lernt Adornos Stimme im Radio kennen, schon als Schülerin, unter der Bettdecke, wenn sie schlafen soll. Und noch als Studentin hat sie sich den mädchenhaften Scharfblick einer sehr jungen Frau bewahrt, die einerseits nur theoretisch versteht, wie attraktiv und faszinierend sie für einen Mann sein muss, den sie aufgrund des Altersunterschieds nur als Wesen aus einer anderen Dimension wahrnehmen kann, hinter dessen intellektuelles und soziales Geheimnis sie jedoch andererseits dringend zu kommen wünscht.
Gerumpel von Geschlechtsverkehr
Diese sehr spezifische Mischung aus Nähe und Ferne ist bei Wysocki glänzend gesehen, erinnert und geschildert und bringt Vignetten von einer derartigen physiognomischen Prägnanz hervor, dass man sie nicht mehr vergessen kann. Man sieht Adorno plastischer, wenn man Fotografien des Gelehrten nach der Lektüre dieses Buchs betrachtet.
„Kein Zug, der ins Bedeutende geht, kein physiologisches Ereignis wie bei Samuel Beckett oder Franz Kafka, Gesichter, in die sich der Geist hineingefressen, geradezu hineingefräst hat. Aber. Da gibt es etwas. Ich kann nicht gleich erkennen, was es ist. Es ist ein Haltepunkt. Ein Etwas wie aus Glas gemacht. Bruchfestes Glas. Gussform. Jetzt sehe ich, dass es die Pupillen sind. Schild. Deckung. Befestigungsanlage. Von ihnen abgeschirmt und bewacht das bewegte Innenleben des Kopfes. Ein Wächterpaar. Zwei dunkle, von Weiß umgebene Kugeln.“
All das ist fabelhaft beschrieben und erzählt, ergänzt durch atmosphärisch genaue Schilderungen der noch muffigen (und ziemlich armen) Frankfurter Haushalte der Adenauerzeit, in die sich die Studentin als „möblierte Kostgängerin“ einmietet.
Gisela von Wysocki: „Wiesengrund“. Suhrkamp, Berlin 2016, 264 Seiten, 22 Euro
Es sind Beschreibungen einer Stadt, die es nicht mehr gibt, die in einem soziologischen Klassiker wie Krakauers „Die Angestellten“ stehen könnten: das Sexualleben einer ebenfalls untermietenden Stenotypistin hinter einer verschlossenen Tür, durch die nur das Knallen eines Sektkorkens und das Gerumpel einer zum Geschlechtsverkehr ausgezogenen Schlafcouch dringen. Das sich auf die vielsagende Stille dann anschließende Schlurfen der Vermieterpantoffeln auf dem Gang zum Klo.
Eine Landpartie mit dem Vermieterehepaar, bei dem zum Vorschein kommt, dass ihr Kostherr noch ganz ungebrochen nationalsozialistisch über den emigrierten Juden Theodor W. Adorno denkt. Das Pennälerhafte in den Zirkeln, Redereien und Gesichtern der sich formierenden marxistischen Studentenbewegung.
Der einzige Nachteil ist gravierend
Der einzige – allerdings entscheidende – Nachteil dieses Buchs geht auf die künstlerische Entscheidung Gisela von Wysockis zurück, diese Szenen und ihre hohe Beschreibungskraft eben nicht in den Dienst einer memoirenhaften bildungssoziologischen Erzählung zu stellen (was ihre unbestreitbare Stärke störungsfrei entfaltet hätte), sondern unbedingt einen Roman aus ihnen machen zu wollen.
Die fiktionale background storyder offensichtlich autobiografisch operierenden Erzählerin wirkt aufgesetzt und ist für den hochinteressanten Kern ihres Buches überflüssig. Zumal Gisela von Wysocki einen bedeutenden und schilderungswürdigen Vater hatte, der künstlerischer Leiter der Odeon-Schallplattenfirma war und über dessen psychologische Rivalitätsrolle zu ihrem berühmten Professor man lieber etwas erfahren hätte als über den fiktionalen Vater ihrer Erzählerin.
Gisela von Wysockis „Wiesengrund“ ist ein sich selbst verkennender Klassiker der „soziologischen Feinmalerei“ (Michael Rutschky). Eine dichte Beschreibung unserer universitären sechziger Jahre, die sich – aus welchen Gründen auch immer – irrtümlich für einen Roman hält.
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