Gigantische Sperrtore sollen Venedig retten: Machet die Tore zu
Venedig sinkt, der Meeresspiegel steigt. Diesen Monat beginnen die Bauarbeiten für ein Megaprojekt zum Schutz der Lagune. Viele fürchten, dass es mehr zerstört als nützt.
VENEDIG taz | Vor den Markusplatz schiebt sich eine riesige weiße Wand. Höher als der Dogenpalast, 300 Meter lang und keine hundert Meter von der Uferpromenade entfernt, pflügt das Kreuzfahrtschiff „MSC Music“ durch die historische Kulisse. Hunderte von Passagieren stehen an der Reling und genießen den Ausblick. Zwei Schlepper bugsieren den Ozeanriesen mit einem Tiefgang von sieben Metern durch die Lagune, die hier eigentlich nur zwei Meter tief ist.
Die Bugwelle der schwimmenden Spaßfabrik schwappt auch unter einem kleinen achteckigen Häuschen am Ufer durch. Nur ein paar Antennen und Messgeräte an dem Bretterverschlag deuten an, wie wichtig diese Hütte ist. Hier vor der Barockbasilika Santa Maria della Salute an der Landspitze gegenüber von Dogenpalast und Markusplatz messen die Behörden den offiziellen Wasserpegel, der über Rettung oder Untergang des Unesco-Kulturerbes entscheidet.
Gerettet wurde Venedig schon öfter: vor der Völkerwanderung, vor der Pest und immer wieder vor dem Hochwasser. Aber jetzt wird es wirklich ernst: Das Land, auf dem die Palazzi stehen, senkt sich ab, das Meer steigt durch den Klimawandel unerbittlich. Was bei anderen Städten eine Metapher ist, lässt sich in Venedig mit dem Zollstock messen: Im 20. Jahrhundert kam die Stadt ihrem Untergang 23 Zentimeter näher. Und immer häufiger ruft die Messstelle vor Santa Maria della Salute „Aqua alta“ aus: Gab es in den 50er Jahren 18-mal Hochwasser, so bekam Venedig im vergangenen Jahrzehnt 65-mal nasse Füße.
Da kommt ein biblischer Schutzpatron gerade recht: Die Mose-Sperrtore (siehe Grafik) sollen die Stadt vor den Fluten retten. Nach 20 Minuten mit dem Schnellboot durch die Lagune empfängt Enrico Pellegrini, Mose-Bauleiter, in Malamocco. Hier wurde eine künstliche Insel in den Meeresboden gestampft, groß wie 250 Fußballfelder. Auf ihr ruhen 18 Betonfundamente und die Hoffnung der italienischen Regierung, mit einem der größten Infrastrukturprojekte Europas die Lagune und Venedig zu retten. Ende Mai werden die ersten Fundamente im Meeresboden versenkt.
20.000 Tonnen Stahlbeton
steht für Modulo sperimentale elettromeccanico und ist ein System aus 78 Fluttoren, die die Lagune von Venedig vor dem Wasser der Adria schützen sollen. An drei Standorten (Lido, Malamocco, Chioggia) werden ab Mai 2012 Fundamente im Meeresboden versenkt. Auf ihnen sollen sich ab 2014 die mächtigen Fluttore mit Pressluft heben und das Hochwasser aussperren. Die Kosten betragen bislang etwa 5,5 Milliarden Euro, zum größten Teil italienische Mittel. Darin enthalten sind auch Maßnahmen zur Sanierung der Lagune und zur Wiederherstellung von Feuchtgebieten.
In Malamocco warten die Ungetüme von jeweils 20.000 Tonnen Stahlbeton auf ihren Einsatz. Groß wie Häuserblöcke lagern sie auf hydraulischen Pressen auf staubigem hellen Kies. 3.500 Menschen arbeiten für Mose, und Pellegrini, ein freundlicher Ingenieur mit randloser Brille und Wollpulli unter der gelben Warnweste, erklärt geduldig die Details. „Die Fundamente schwimmen von selbst und werden an ihren Einsatzort gezogen. Dann fluten wir sie und versenken sie in einer Baugrube am Meeresboden.“ Später werden die Tore installiert. Es gibt 78 Fundamente an vier Standorten, pro Stück rechnen sie mit zwei Wochen Arbeit und hoffen auf gutes Wetter. Dies dürfte bis Ende 2013 dauern, aber Pellegrini hat Geduld. Er arbeitet schon seit 2005 an Mose.
Planung und Logistik sind eine Leistungsschau der italienischen Baubranche. Die hat sich zum Consorzio Venezia Nuova zusammengetan und die lukrativen Aufträge unter sich verteilt. Öffentliche Ausschreibungen gab es nicht. Gerettet wird vielleicht die Lagune, aber auch die Bauindustrie. Stahl und Beton gegen steigende Meeresspiegel sind in Zeiten des Klimawandels eine gute Geschäftsidee. London und Rotterdam haben ähnliche Sperrwerke, Pellegrini hat oft auswärtige Besucher. „China, Vietnam, Bahrain, alle waren hier“, sagt der Bauleiter. Seine Firma GLF hofft auf Aufträge.
Genau das macht Tommaso Cacciari wütend. „Mose macht die Baufirmen reich, hilft uns aber nicht.“ Auch er will Venedig retten. Allerdings nicht durch, sondern vor Mose. Der Sozialarbeiter knallt im alternativen Kulturprojekt Morion in Venedigs armem Osten Castello erst einmal ein zwei Kilo schweres Planungsdokument auf den Tisch. Es beinhaltet 18 Alternativvorschläge der Kommune Venedig: schwenkbare Deiche, schwimmende Sperren, aufblasbare Wälle. Keiner wurde berücksichtigt. Seit dem verheerenden Hochwasser von 1966 wird über Rettungsmaßnahmen diskutiert. „Aber sie sollten rückholbar sein“, erinnert sich Cacciari. Mose ist das Gegenteil: Einmal versenkt, sollen die Fundamente für 100 Jahre im Wasser bleiben.
„Mose hat ein Demokratieproblem“, sagt Cacciari. „In Rom wollen es alle Parteien, hier sind alle dagegen“. Über Jahrhunderte hat die Lagunenstadt ihre Wasserpolitik selbst bestimmt, jetzt entscheidet Rom: Über die Wasserbehörde der Stadt, den Magistrato alle aque, hat sie das Consorzio eingesetzt, ihm den Bau von Mose übertragen und mit fünf Milliarden Euro an Steuergeldern ausgestattet. Cacciaris Onkel Massimo, ein bekannter Intellektueller und Philosoph, hat sich zehn Jahre lang als linker Bürgermeister Venedigs gegen Mose gewehrt. Vergeblich.
Rom profitiert
„Ach, wenn es nur das Geld wäre“, seufzt Tommaso Cacciari. Er fürchtet, dass Mose mehr zerstört als nützt: Mehr Wasser komme schneller in die Lagune, und die Kreuzfahrtschiffe und Chemietanker, die sich täglich durch die sensible Lagune schieben, fahren weiter. Nur für sie werde der Boden bei Mose stellenweise bis zu 14 Meter tief ausgebaggert. Gerade nach der Strandung der „Costa Concordia“ im Januar an der italienischen Westküste schlagen die Wellen der Empörung hoch, wenn Riesenpötte durch Venedig fahren. „Aber die Entscheidung liegt in Rom. Und da gehen auch die Hafengebühren hin.“
Ob Mose die Rettung bringt, hängt schon in der biblischen Geschichte vom Standpunkt ab. Während die Israeliten trockenen Fußes durchs Meer ziehen, geht die Armee des Pharao mit Mann und Maus unter. Das gefürchtete Aqua alta sei zum großen Teil durch Menschen verursacht, sagt Cacciari. Die Lagune ist heute durch Straßen und Flughafen um ein Drittel kleiner als früher, das bringe eben Überschwemmungen. „Die Lagune ist keine Badewanne, die man mit einem Stöpsel regulieren kann“, kritisiert er. „Und was machen wir bei Regen? Die letzte große Überschwemmung hatten wir in Norditalien durch die Flüsse, die auch in die Lagune münden.“
Venedig retten? Ciacciari lacht bitter. „Schauen Sie sich doch um hier!“ Das Kulturzentrum ist ein historisches Gebäude, das langsam zerbröckelt. Irgendwann haben sie es einfach besetzt. Hierher fliehen Venezianer immer wieder vor der Touristenkultur. Jeden Freitag spielt eine Band, es wird Pizza gebacken und an den Wänden hängen Demoaufrufe der linken Szene aus ganz Europa. Gegenüber liegt hinter einer brüchigen Backsteinmauer das Krankenhaus Ospedale Civile. „Und das machen sie uns jetzt zu“, klagt Cacciari. „Kein Geld und zu wenig Menschen in der Stadt.“
„Veniceland“ für Touristen
Jedenfalls zu wenig Einheimische. Denn an Touristen herrscht im Unesco-Weltkulturerbe kein Mangel. Und so wie Venedig sich immer mehr zu „Veniceland“ wandelt, das vor allem für Touristen betrieben wird, könnte auch die Lagune umfassend künstlich gemanagt werden. Das schlägt zumindest Georg Umgiesser vor, ein deutscher Hydrologe, der seit 30 Jahren für das staatliche italienische Meeresforschungsinstitut Ismar die Lagune erforscht, die so groß ist wie der Bodensee. „Wir müssen uns entscheiden: Venedig zu retten oder die Lagune“, sagt Umgiesser. Die Lagune retten hieße: freie Bahn für das Wasser. Das wäre der Untergang für Venedig. Die Stadt zu bewahren, müsse auf lange Sicht aber heißen: die Verbindung zum Meer zu schließen. Das wäre das Ende der jetzigen Lagune, die vom Austausch zwischen Salz- und Süßwasser lebt.
Umgiessers Institut ist gerade umgezogen ins alte Arsenal der Stadt. Die „verbotene Stadt“, nicht weit von Cacciaris Kulturzentrum, war einmal die Waffenkammer der Seestreitmacht Venedig. Hier wurden die gefürchteten Kriegsgaleeren am Fließband gebaut, vor Umgiessers Büro erinnert ein Wappen von 1530 an diese stolze Tradition. Morsche Kräne ragen über rot-weiße Backsteindocks voller eleganter Säulengänge. Die alten Montagehallen werden liebevoll restauriert, hier sollen die Kompetenzen Venedigs für Meeresforschung gebündelt werden. Auch das Management von Mose.
Überholte Daten
Für Umgiesser ein Prestigeprojekt. Und Geldverschwendung. Im besten Fall ein Strohhalm, an den sich die Stadt klammert. „Die Planungen beruhen auf Daten von 1999“, zeigt er in einer Präsentation. Mose ist ausgelegt für 60 Zentimeter Meeresspiegelanstieg bis 2100. Heute rechnen die Wissenschaftler mit dem doppelten Wert. Und schon bei nur 50 Zentimeter höherem Meerespiegel müsste Mose an 300 Tagen geschlossen bleiben, hat Umgiesser kalkuliert. „Das ist eigentlich unmöglich, dafür ist Mose nicht konzipiert.“ Ohne Ebbe und Flut fehle die Müllabfuhr für die Lagune: Der Dreck aus den Industrieanlagen und die Abwässer der Schiffe blieben im Wasser. „Und vor allem müssten wir ernsthaft darüber nachdenken, eine ordentliche Kanalisation zu bauen“, mahnt der Meeresforscher. Wenn man es langsam mache, könnten sich auch Tiere und Pflanzen anpassen, wenn aus der offenen Lagune ein Süßwassersee werde. Mose könne der Stadt Zeit kaufen, vielleicht 20 oder 30 Jahre, um diese Fragen zu entscheiden.
Bisher ist von offener Debatte wenig zu spüren. Im November 2011 hatte die Unesco zu einer internationalen Tagung über die Zukunft Venedigs in die Stadt geladen. Es sollte auch um Mose gehen. Zwei Wochen vorher wurde die Konferenz abgesagt. „Höhere Gewalt“, hieß es von der Unesco. Hinter den Kulissen hieß es, das Konsortium habe interveniert. Kulturchef der Unesco in Paris ist Francesco Bandarin – sechs Jahre lang an der Spitze des Consorzio Venezia Nuova.
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