Gift von Fabriken in Chile: Schwarze Fische, warmes Gift
In Puchuncaví-Quintero in Chile dürfen Fabriken unkontrolliert die Umwelt zerstören – und die Körper derjenigen, die dort leben.
Hebt man den Blick über die Sonnenschirme hinweg, sieht man riesige Fabriken, die nur wenige hundert Meter weiter direkt am Strand stehen. Ihre rot-weißen Schornsteine rauchen, ihr Abwasser fließt über Pipelines direkt ins Meer. Die Warnschilder, die deutlich kleiner sind als jene mit den Konzernnamen, halten viele nicht davon ab, hier zu baden.
Katta Alonso Raggio steht im Garten vor ihrem Haus und blickt auf dieses Panorama. „Die Leute baden hier besonders gern, weil das Wasser so warm ist wie nirgendwo sonst in der Region“, sagt sie mit einer tiefen Raucherstimme, die einen bei ihr, die so zierlich ist, zuerst überrascht. „Der Grund für das warme Wasser sind die Giftstoffe“, sagt Raggio. Gegen die kämpft sie schon seit Jahren. Sie hat ihr Anliegen bis vor den UN-Menschenrechtsrat und die interamerikanische Menschenrechtskommission gebracht.
Die chilenische Regierung hat in den sechziger Jahren fünf Gebiete dem industriellen Ausbau überlassen. Puchuncaví-Quintero ist eine sogenannte zona de sacrificio, eine geopferte Zone.
Viele akzeptieren die Opferung von Gebieten
2018 haben Experten hier 120 unterschiedliche Gase in der Luft gemessen. Eines davon war Methylchloroform, das seit 2015 in Chile verboten ist. Es verursacht dieselben Symptome, über die viele Bewohner von Puchuncaví-Quintero klagen: Schwindel, Kopfschmerzen, Erbrechen. Laut einer Studie des chilenischen Gesundheitsministeriums ist die durchschnittliche Arsenkonzentration in Quintero-Puchuncaví 23-mal so hoch wie die in der EU zugelassene. In Chile gelten keine Grenzwerte.
Obwohl Umwelt und Menschen erheblich leiden, wird die Opferung von Gebieten nicht nur von Wirtschaft und Politik, sondern auch vom Großteil der Bevölkerung akzeptiert. Katta Alonso Raggio kann das nicht verstehen und hat daher vor fünf Jahren die Organisation „Mujeres de Zona de Sacrificio de Puchuncaví-Quintero“ („Frauen der geopferten Zone von Puchuncaví-Quintero“) gegründet. Sie will denen helfen, die sich selbst überlassen und für den Wohlstand anderer geopfert werden.
„Im August waren die Vergiftungen so schlimm wie nie zuvor“, sagt Raggio. „Kinder spuckten Blut, und fast hundert Menschen kamen in die Notaufnahme.“
Die Krankenhäuser in Puchuncaví-Quintero dokumentierten mehr als 1.000 Fälle, vor allem von Kindern, mit Atemproblemen, Schwindel, Erbrechen, Lähmungen und Hautproblemen. Die Regierung rief daraufhin den Gesundheitsnotstand aus, der die Firmen in Puchuncaví-Quintero dazu verpflichtete, ihre Emissionen deutlich zu reduzieren.
Krankenhäuser im Ausnahmezustand
Raggio findet, das ist das zu wenig, weil es den Betroffenen nicht hilft. Sie kümmert sich deswegen um sie. Zwei von ihnen sind Nancy Maricela Osses Castillo und deren Tochter. Die 10-jährige Angela ist fast so groß wie ihre Mutter, aber viel schmächtiger. Wie ihre Mutter hat sie die langen, braunen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Beide tragen pinke Pullover. Die 39-jährige Castillo strahlt, als Raggio kommt, die beiden Frauen umarmen sich.
„Wir sind erst seit gestern hier, Angela ist schon wieder krank, sie hat sich die ganze Nacht übergeben“, sagt Castillo. „Oh nein“, sagt Raggio und fährt aufmunternd fort: „Aber das Haus sieht gut aus.“
Nancy Maricela Osses Castillo
„Mein Mann und ich haben es gebaut. Jetzt, wo es fertig ist, können wir hier nicht wohnen, weil das die Gesundheit unserer Tochter gefährden würde“, sagt Castillo. Sie erzählt auch, was im August passiert ist: Sie war gerade dabei, einen Pool zu säubern, als die Schule ihrer Tochter anrief. Angela sollte abgeholt werden, weil sie über Kopf-, Hals- und Beinschmerzen klagte. Castillo fuhr sofort mit ihr ins Krankenhaus. „Dort sah es aus wie in einem Kriegsfilm“, sagt sie, „alle rannten umher und schrien“.
„Die Krankenhäuser hier waren überfordert und im Ausnahmezustand“, erklärt Raggio. Die Ärzte schickten Castillo und ihre Tochter nach Hause. Angela sollte sich einen Tag ausruhen. Als sie am nächsten Tag wieder in die Schule ging, musste die Mutter sie erneut abholen. „Mama, mir brennen die Augen“, sagte sie. Castillo brachte ihre Tochter nach Valparaíso, in die Hauptstadt der Region. Dort empfahl man ihr, umzuziehen, da Angela vergiftet sei.
Regierung hat wohl kein Interesse an Daten
„Kinder sind besonders anfällig für Vergiftungen“, sagt Paulina Pino Zúñiga, Professorin für öffentliche Gesundheit an der Universidad de Chile. Umweltverschmutzung ist ihr Spezialgebiet, sie ist mit der Situation in Puchuncaví-Quintero vertraut. Obwohl sich die Krebsfälle dort häufen, ist es schwer, eine Kausalität zwischen den Erkrankungen und den Giftstoffen eindeutig nachzuweisen.
Es gibt zu wenige Studien; die Regierung scheint kein Interesse daran zu haben, Daten zu sammeln. Fest steht laut Zúñiga daher nur, dass „die Kombination von Schwefeloxiden und Feinstaub Atemwegs- und Herzkreislauferkrankungen verursacht und dadurch mehr Menschen sterben können“.
Castillo folgte dem Rat der Ärzte und zog mit ihrer Tochter zu ihren Eltern in das zweieinhalb Stunden entfernte Petorca in der Nachbarprovinz. „Ich bin froh, dass wir diese Möglichkeit haben“, sagt sie, „denn die Wahrscheinlichkeit, dass unsere Tochter Krebs bekommt, ist dort deutlich geringer.“
Castillos Mann wohnt noch immer in Puchuncaví-Quintero. Um ihn und ein paar Freunde zu besuchen, sind sie und ihre Tochter heute hier. Die Castillos können sich Haut- oder Bluttests, die für eine bessere Diagnose nötig wären, nicht leisten. Weil das Gesundheitssystem in Chile privatisiert ist, muss jeder selbst dafür aufkommen. „Der Umzug war für uns die einzige Lösung“, sagt Castillo. Sie beginnt zu weinen.
„Wir wollen gesunde Kinder!“
Nach den Vorfällen im August forderte die Regierung die Bevölkerung auf, sich möglichst nicht im Freien aufzuhalten. „Anstatt die Betriebe dichtzumachen, wurden die Schulen temporär geschlossen“, sagt Raggio und zündet sich eine Zigarette an. Ansonsten passierte nichts. Wochenlang. Deswegen organisierte Raggio, die fast jeder grüßt, wenn sie durch die Gemeinde läuft, Proteste. Sie konnte so viele Menschen mobilisieren wie nie zuvor.
Auf den Transparenten stand: „Wir wollen gesunde Kinder! Sauberes Wasser und Luft“ und „Das Leben verkauft man nicht, man verteidigt es!“ Die Regierung antwortete mit dem Einsatz von Spezialkräften der Polizei. „Sie gingen mit Wasserwerfern und Tränengas gegen uns Demonstranten vor“, sagt Raggio, drückt ihre Zigarette aus und verabschiedet sich liebevoll von den Castillos.
Im Auto erzählt Raggio weiter. Als der chilenische Präsident Sebastián Piñera der Gemeinde einen Besuch abstatten wollte, vertrieben ihn die Demonstranten. „‚Hau ab!‘ haben wir gerufen“, sagt Raggio. Denn trotz der Berichte der Gesundheitsbehörde unternahm er nichts. „Im Gegenteil. Er schützt die Firmen, die für die toxischen Gase verantwortlich sind.“
Die Firmen, das sind zwei staatliche Unternehmen, der Kupferriese Codelco und die Erdölraffinerie Enap, und sechs private. Eine davon ist der Chemiekonzern Oxiquim. Der Präsident von Oxiquim war lange der Anwalt von Staatspräsident Piñera und ist Sozius des Ehemanns der Umweltministerin.
Firmen zahlen Schweigegelder
Raggio fährt durch das 1.000 Hektar große Industriegebiet. Die Schornsteine der Kraftwerke rauchen, es zischt aus den Gasrohren, über der Straße sind Gleise, auf denen mit Kohle beladene Container transportiert werden. Sie fährt vorbei an vielen riesengroßen Tanks mit Erdöl von Enex, einem Partner von Shell, und von Copec, dem Unternehmen, das den Großteil der Tankstellen in Chile mit Benzin versorgt. In der Ferne sieht man die Abraumhalde einer Mine, eine mehrstöckige Asphaltmischanlage, Zementsilos und die riesige Kupferanlage von Codelco.
16 Unternehmen sind hier ansässig. Jüngst hat Präsident Piñera weitere Projekte genehmigt. „In den vergangenen Jahren haben sich die Industriebetriebe verdoppelt“, sagt Raggio, „und es kommt immer wieder zu Unfällen.“
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Die Firmen tun nichts. Außer dass sie in Einzelfällen Schweigegelder an die Betroffenen zahlen, sagt Raggio. Oder Leute engagieren, die die Kohlepartikel am Strand möglichst unauffällig mit Schippen in großen Plastiktüten verschwinden lassen.
Wenn man die Menschen hier fragt, warum sie dennoch hier leben und sogar baden, zucken sie nur mit den Schultern. „Sie haben keine andere Wahl“, sagt Raggio. Sie selbst schon, aber sie bleibt, obwohl ihre Kinder es nicht gern sehen, dass ihre Mutter ihre Gesundheit gefährdet. „Es geht nicht um mich. Ich kämpfe für die Zukunft unserer Kinder. Wir dürfen den Ort nicht sich selbst überlassen.“
Schwarze Fische am Strand
Raggio kennt Puchuncaví-Quintero noch ganz anders. Als Kind kam sie jeden Sommer aus Santiago her, um ihre Großeltern zu besuchen, die Fischer waren und in dem Haus lebten, in dem sie jetzt wohnt.
„Es gab wenig Industrie, diese Straße gab es auch nicht. Wir sind immer mit dem Boot gekommen.“ Vor 13 Jahren fragte eine Freundin, ob Raggio in einer Schule für Kinder mit Lernschwierigkeiten in Puchuncaví-Quintero arbeiten wolle. Sie zog her. „Es war zwar schlecht bezahlt, aber ich hatte schon immer das Bedürfnis zu helfen.“
Kurz nach ihrem Umzug, erzählt Raggio, entdeckte sie schwarze Fische am Strand. Einem Bekannten von ihr, einem Fischereiingenieur, fiel auf, dass die Fische nicht nur schwarz waren, sondern auch zu einer Art gehörten, die nur in heißem Wasser vorkommt. Schnell stellte er die Kontaminierung fest.
Katta Alonso Raggio
Am nächsten Tag fährt Raggio zu einer verlassene Schule, die wirkt, als hätte dort eine Bombe eingeschlagen. Alte Schulhefte liegen auf dem Boden verteilt, alles ist mit Staub bedeckt. „Der Staub ist hochgiftig“, sagt Raggio. „Aber das mussten wir erst mal beweisen.“
Zusammen mit anderen entnahm Raggio Bodenproben und gab eine Studien in Auftrag, die die Gefahr für die Kinder eindeutig nachwies. Sie forderte Codelco, den größten Kupferproduzenten der Welt, dazu auf, die Schule professionell reinigen zu lassen. Codelco schickte eine Putzfrau vorbei. „Es dauerte acht Jahre, bis die Regierung die Schule schloss und zwei Kilometer weiter verlegte“, sagt Raggio.
Raggio isst nichts mehr aus der Region
Etwa zur gleichen Zeit machte Raggio selbst eine Erfahrung, die sie nie vergessen wird. Nachdem sie den ganzen Tag über ihren Garten gepflegt hatte, ging sie duschen und dann zu einer Veranstaltung. Als sie sich hinsetzen wollte, ging es ihr auf einmal so schlecht, dass sie aufsprang und nach Hause rannte, erzählt sie. „Es war eine Explosion des Körpers. Ich hatte Durchfall und musste mich übergeben.“
Raggio glaubt, dass es an der Gartenarbeit lag. Inzwischen hat sie einen Vorrat an Medikamenten zu Hause. Sie isst keine Lebensmittel mehr aus der Region, nur Abgepacktes. Jedem Neuankömmling empfiehlt sie, nur abgefülltes Wasser zu verwenden.
In Santiago, der chilenischen Hauptstadt, trifft sich Raggio zu Beginn des Jahres mit Vertreterinnen anderer internationaler Organisationen, die sich für die Wahrung der Menschenrechte einsetzen. Gemeinsam verfolgen sie die Liveübertragung der Sitzung des UN-Menschenrechtsrats. Es soll auch um Raggios Antrag gehen.
Hochkonzentriert sitzt sie in der ersten Stuhlreihe in einem klimatisierten Raum im Institut für Menschenrechte. Sie wartet die Empfehlungen der einzelnen Nationen ab. Sobald Chile erwähnt wird, geht ein „Psst!“ durch den Raum.
Einen Monat zuvor hatte Raggio ihr Anliegen auch in Genf vorgetragen und war damit den ersten internationalen Schritt gegangen. Was sie fordert, ist klar: mehr Transparenz und Kontrolle. Im Detail heißt das: einen Plan gegen die Verschmutzung und eine unabhängige Überprüfung der Industrieanlagen. Außerdem ein Programm zur Säuberung von Boden, Wasser, Luft und Meer und die Einführung von Grenzwerten entsprechend den Richtwerten der Weltgesundheitsorganisation.
Nicht nur das Fehlen von Grenzwerten ist ein Problem, sondern auch die Gesetzgebung. Erst 1997 wurde ein Gesetz erlassen, das das Umweltministerium dazu verpflichtet, darüber zu wachen, dass die Umwelt nicht weiter vergiftet wird. Es gilt aber nur für Fabriken, die nach dem Inkrafttreten entstanden, aber nicht für Projekte von vor 1997 und deren Erweiterungen.
Das chilenische Gesetz besagt auch, dass jeder das Recht auf reine Luft habe. Grenzwerte gibt es allerdings nur für bestimmte Stoffe. Arsen, Quecksilber, Blei, Aluminium und Kupfer werden nicht kontrolliert.
Für andere Stoffe in Luft, Boden oder Wasser wird die Überwachung der Grenzwerte den Unternehmen selbst überlassen. In Puchuncaví-Quintero kontrolliert Codelco die Daten. Nach den Vorfällen im August sollte das geändert werden, aber bislang ist das nicht geschehen. Trotz allem gibt Chile vor, die UN-Nachhaltigkeitsziele bis 2030 umsetzen zu wollen.
Gesundheitsnotstand seit Kurzem beendet
Endlich geht es bei der UN-Übertragung um Chile. Wieder ertönt ein „Psst!“. Raggios Antrag wird kaum berücksichtigt. Nur Bangladesch spricht eine Empfehlung aus. „Ich hatte mir mehr erhofft“, sagt Raggio vor der Tür und drückt ihre Zigarette aus, „aber für mich bedeutet das: weiterkämpfen!“ Sie setzt ihre Sonnenbrille auf und verabschiedet sich. Auf der Rückfahrt nach Puchuncaví-Quintero organisiert sie gleich die nächste Aktion: eine Reise nach Bolivien zur Interamerikanischen Menschenrechtskommission Ende Februar.
Dort hat Raggio mehr Erfolg als bei der UN. Die Kommission erklärt, dass in Puchuncaví-Quintero Umweltzerstörung und Menschenrechtsverletzungen vorliegen.
Anfang März veröffentlicht das chilenische Umweltministerium eine Studie, laut der die Schadstoffkonzentration in der Luft in Puchuncaví-Quintero keine Gefahr für die Gesundheit der Menschen darstellt. Die Proben für die Studie wurden während des Gesundheitsnotstands genommen.
Für Raggio ist klar: Das ist eine Täuschung mit dem Ziel, den Gesundheitsnotstand nicht verlängern zu müssen. Er wurde Anfang April beendet.
Raggios große Hoffnung ist der nächste UN-Klimagipfel, den Chile ausrichtet. „Ich kämpfe, bis wir frische Luft haben“, sagt sie und zieht an ihrer Zigarette.
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