: Geziegelte Zumutung
Revolution in der Theaterwüste Rom: Mario Martone eröffnet in einer Seifenfabrik das Teatro India ■ Von Marina Collaci
Viele in Rom haben drauf gewettet, dass ich es nicht schaffen würde.“ Doch wenigstens den Start hat Mario Martone, vor acht Monaten zum Direktor des Teatro di Roma, des Städtischen Theater Roms ernannt, bravourös bewältigt. Kaum im Amt, revolutionierte er die altehrwürdige Institution. Martone überzeugte die Stadt, das Gelände einer alten Seifenfabrik – der „Miralanza“ – aufzukaufen, und verwandelte die Industrieruine im Schnelltempo in einen neuen Spielort, der schon am 7. September den Spielbetrieb aufnahm. So kurz die Frist, so bescheiden waren die aufgewandten Mittel: Mit weniger als zehn Millionen Mark wurden die heruntergekommenen Fabrikhallen erworben und instand gesetzt. Dort, wo bis 1956 Seifensieder am Werke waren, will Martone jetzt einen Kontrapunkt zu den plüschigen Sälen setzen, die bisher Roms Theaterszene ausmachen.
„Teatro India“ heißt die neue Spielstätte mit drei Sälen mit jeweils 300 Sitzplätzen, einer Kunstgalerie, einem Hof mit Café und einer Freilichtbühne für 500 Zuschauer. Schon die Optik des Geländes beschert dem Besucher wilde Kontraste. Wer im Abenddunkel den Fackeln folgend auf den Fabrikhof tritt, mag leicht die hohlen Fensterbögen mit römischen Ruinen verwechseln. Die Freilichtbühne dagegen wird durch das meterhohe Schilfdickicht des Tiberufers begrenzt, hinter dem das gigantische Stahlgerippe eines alten Gasometers in den Himmel ragt. Und die geziegelten Fabrikhallen wirken im Scheinwerferlicht von außen fast wie ein Zisterzienserkloster.
Doch die Kontraste sollen hier nicht aufhören – dafür steht schon der Name des neuen Hauses. Die etablierte Bühne des Teatro di Roma, ein neoklassischer Bau, wurde nach dem lateinischen Namen einer französischen Diözese „Argentina“ genannt. Nun gesellt sich das „India“ hinzu. Vom reicheren Argentinien ins ärmere und doch an Kultur so reiche Indien, vom prächtigen Theatersaal mit Kronleuchtern und Polstersesseln in die kahle Fabrikhalle mit ihren grauen Plastikstühlen, von Roms herausgeputztem Zentrum in die Peripherie des Viertels Ostiense-Marconi mit seinen zehnstöckigen Mietskasernen will Martone die Zuschauer locken.
Und sie dabei in neue Theaterwelten mitnehmen. Der Spielplan der eben begonnenen Saison bietet, was in einer Metropole selbstverständlich sein sollte und doch in Rom ein echtes Novum darstellt: ein Panorama gegenwärtigen Theaterschaffens. 40 Stücke – statt der bisher üblichen zwölf oder 13 – sind vorgesehen. Und anders als seine Vorgänger wird Martone nur eine Inszenierung selbst übernehmen, den „Ödipus“ von Sophokles. Ansonsten will der neue Intendant das Welttheater an den Tiber holen. Vom balinesischen Theater zu Peter Sellars, von Pina Bausch über Thomas Ostermeier zu den italienischen Bigs Carmelo Bene, Marco Bellocchio, Toni Servillo, Giorgio Barberio Corsetti, Carlo Cecchi und Eugenio Barba, der einen Monat lang mit gleich neun Produktionen gastieren wird. Daneben sind Filmretrospektiven, Lesungen, Treffen mit Dichtern aus Afrika oder Australien geplant.
Ehrenwerte Absichten – erst recht in der Theaterwüste Rom. Doch kaum hatte das „India“ den Spielbetrieb aufgenommen, hagelte es polemische Breitseiten, abgefeuert von prominenten Kritikern wie von diversen Schauspielern. Shakespeare in der Fabrik, ohne Bühnenbild und ohne Kostüme – das sei schier eine Zumutung. Und neu sei Martone schon gleich gar nicht, befand das WochenmagazinEspresso. Schnee von gestern biete er, mit seinem Geschmack à la Peter Brook, mit seiner Ästhetik aus dem „autonomen Zentrum“ der Achtziger oder, wohl schlimmer noch, aus den Theaterkellern der Siebzigerjahre. Schier überflüssig sei das India: schließlich bestehe für dieses Möchtegern-Alternativtheater doch gar kein Markt in Rom. Der junge Schnösel aus Neapel, 39 Jahre alt, könne seine Berufung denn auch nur einflussreichen „Freundschaften“ verdanken, so wie man überhaupt seine ganze Karriere mit erfolgreichen Inszenierungen in Amerika, der Leitung der Teatri uniti in Neapel und Einladungen zu internationalen Theatertreffen (u.a. 1998 nach Berlin) recht besehen diesen Beziehungen zuzuschreiben habe.
So viel Theater ums „Teatro India“ hatte Martone nicht erwartet – und schon gleich nicht den Vorwurf, er schaffe da ein „Angebot ohne Nachfrage“. Diese „Nachfrage“ – sie ist das Kreuz der eingesessenen römischen Theater, besteht sie doch vor allem aus dem pelzstola- und frackgewandeten Abonnementspublikum, das den Theaterabend vor allem als gesellschaftliches Ereignis schätzt. Das immer gleiche Pirandello-Inszenierungen goutiert, Shakespeare als Schinken gespielt sehen möchte und nichts so verabscheut wie Experimente.
Abonnements gibt es in Martones Teatro di Roma nun nicht mehr. Stattdessen wurde eine „Streifenkarte“ mit Preisen von 100 bis 200 Mark eingeführt, mit der die Besucher sich jedwedes Stück ihrer Wahl bei 50 Prozent Preisnachlass zu Gemüte führen können. So übel es dem Espresso aufstieß, der seitenlang über den verfehlten, vorgeblich nachfragefeindlichen Spielplan lamentierte – er meldete auch, dass sich die Besucherzahlen des Teatro di Roma unter der Intendanz vom Mario Martone im Vergleich zum Vorjahr glatt verdoppelt haben. Und Carlo Cecchis Shakespeare-Trilogie im Teatro India ist die nächsten drei Monate ausverkauft.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen