Gewerkschaft will Klimawende ohne Entlassungen

Beim Gewerkschaftstag der IG Metall wird es ab Sonntag vor allem um eins gehen: Klima­politik. Der Verband will Millionen Beschäftigte in eine CO2-neutrale Zukunft mitnehmen

Liegt hier die Zukunft von Deutschlands Metallindustrie? Produktion von Batteriezellen im VW Werk Salzgitter Foto: Julian Stratenschulte/dpa

Von Martin Kempe

Ein Thema wird die Diskussionen auf dem Gewerkschaftstag der IG Metall in der nächsten Woche in Nürnberg bestimmen: Die Transformation und „Dekarbonisierung“ der Metallindus­trie und ihrer wichtigsten Branche, der Autoindustrie.

Die mit rund 2,3 Millionen Mitgliedern größte Gewerkschaft Deutschlands und der Welt hat sich festgelegt: Sie setzt sich dafür ein, dass die Klimaschutzbeschlüsse von 2015 und 2017 eingehalten werden. Aber sie sieht auch, dass es eine gigantische Aufgabe ist, die bedeutendste Branche des Exportmodells Deutschland so umzugestalten, dass die Beschäftigten – allein rund 800.000 in der Autoindustrie und noch einmal so viele in der überwiegend mittelständisch geprägten Zulieferindustrie – dabei nicht unter die Räder kommen.

Wie wichtig es ist, den arbeitenden Menschen in der Transformation soziale und materielle Sicherheit zu verschaffen, unterstreicht der Leiter der Grundsatzabteilung in der Frankfurter IGM-Zentrale, Uwe Meinhardt, mit einem Hinweis – einem bedenklichen allerdings. Vor den Werkstoren stünden schon heute die rechtsradikalen Klimaleugner von der AfD, um die Verunsicherung der Beschäftigten durch Digitalisierung, Globalisierung und Klimawandel für sich zu nutzen.

Dem will sich die IG Metall entgegenstellen: „Wer, wenn nicht wir“, sagte IG-Metall-Chef Jörg Hofmann im Interview mit dem Freitag, könne in dieser Situation die sozialen Interessen der Beschäftigten gegenüber Unternehmen und Politik durchsetzen.

In der IG Metall gibt es tatsächlich eine langjährige Organisationserfahrung für die Gestaltung von industriellen Krisen- und Transformationsprozessen. In der Weltwirtschaftskrise von 2008/2009 brachen bei den Herstellern von Nutzfahrzeugen – einem industriellen Segment, das als Frühindikator für die gesamte Industrieproduktion gilt – im November 2008 von einer Woche zur nächsten die Bestellungen ein.

Plötzlich gab es für die rund 6.000 Arbeiter in den Montagehallen von ZF in Friedrichshafen am Bodensee kaum noch etwas zu tun. Im Dezember wurde die Produktion tageweise komplett eingestellt und im Februar 2009 Kurzarbeit angesetzt: nur noch zwei statt drei Schichten, und das an vier Wochentagen. In der ersten Jahreshälfte arbeiteten Teile der Belegschaft nur noch an vier Tagen im Monat.

Ein aktiver Betriebsrat setzte in dieser Situation gemeinsam mit der örtlichen IG-Metall-Verwaltungsstelle durch, dass niemand entlassen wurde. Stattdessen wurde die Kurzarbeit durch ein innerbetriebliches Solidarprojekt ergänzt. Alle Beschäftigten, auch das Management und die nicht betroffenen Angestellten brachten den finanziellen Gegenwert von 15 Gleitzeitstunden in einen neu geschaffenen Beschäftigungssicherungsfonds ein, aus dem das Kurzarbeitergeld für die betroffenen Arbeiter aufgestockt wurde. Außerdem konnten Stipendien an Kurzarbeiter vergeben werden, die ihre arbeitsfreie Zeit zur Berufsfortbildung nutzten.

Ähnliche Projekte gab es auch anderswo. Sie trugen dazu bei, dass es vor zehn Jahren keine Massenentlassungen in Deutschland gegeben hat. Aber heute geht es nicht mehr um die kurzfristige Überbrückung von Wirtschaftskrisen. Der Klimawandel, die Digitalisierung, der nach wie vor drohende Zusammenbruch des spekulativen Finanzsektors mit seinen unabsehbaren wirtschaftlichen und sozialen Folgen – all diese Probleme sind langfristig und werden Wirtschaft und Gesellschaft, Arbeitswelt und Sozialstaatlichkeit grundlegend umwälzen. Kann die IG Metall auch mit diesen neuartigen Herausforderungen umgehen? Sie gibt sich zumindest große Mühe, diesen Eindruck zu erwecken.

So wird die IG Metall auf ihrem Kongress die Forderung stellen, die bislang geltenden Regelungen zur Kurzarbeit zu einem „Transformationskurzarbeitergeld“ zu erweitern. Damit sollen Entlassungen vermieden und Qualifizierungsprozesse innerhalb weiterbestehender Arbeitsverhältnisse systematisch gefördert werden.

Gleichzeitig arbeitet die IG Metall daran, ihre Einflussmöglichkeiten in den Unternehmen systematisch zu erweitern. Wie das funktionieren kann, gibt es Beispiele. Mit Druck, Streiks und Straßenprotesten einerseits und alternativen, zukunftsträchtigen Unternehmenskonzepten andererseits wurde die vom Siemens-Management betriebene Schließung des Standorts Görlitz verhindert. Die Arbeitsplätze wurden gerettet. In den großen Autokonzernen machten Betriebsräte zusammen mit gewerkschaftlichen Aufsichtsratsmitgliedern Druck für eine beschleunigte Umstellung auf Elektromobilität und den Aufbau konzerneigener Batterieherstellung.

Die Ressorts Strategie, Betriebs- und Industriepolitik in der Frankfurter IGM-Hauptverwaltung wurden systematisch ausgebaut. Branchentrends und Investitionsverhalten der Konzerne werden analysiert. Die gewerkschaftlichen Aufsichtsräte werden durch externe Rechtsanwälte, Investmentbanker und Produktionsfachleute beraten und sind oft besser informiert als die Arbeitgeberseite. Sie präsentieren zukunftsträchtige Geschäftsmodelle als Alternative zum bisher üblichen einfallslosen Personalabbau.

Systematisch versucht die IG Metall, im Interesse der Beschäftigten den Fuß in die Tür zu einem verbotenen Terrain zu bekommen – in die Investitionspolitik der Unternehmen. Verwundert stellte das manager magazin in einem ausführlichen Bericht über die aktive Industriepolitik der IG Metall fest: „So war das nie gedacht – Kapitalismus verkehrt.“

Klimaschutz, ohne dass Beschäftigte darunter leiden?

Der IG Metall kommt dabei auch zugute, dass sie schon früher mit den beteiligten Belegschaften über notwendige Transformationsprozesse diskutiert hat: So war die Konversion der Rüstungsindustrie in Richtung ziviler Produkte ein wichtiger, wenn auch letztlich erfolgloser Bestandteil der organisationspolitischen Zukunftsdebatte in den 1980er Jahren. Folgenreicher waren die Diskussionen über die damals aktuellen Rationalisierungsprozesse, über Gruppenarbeit und Humanisierung eng getakteter Fließbandarbeit, über Arbeitsumverteilung und Arbeitszeitgestaltung.

Heute kann die klimapolitisch unabdingbare industrielle Transformation der Metallindustrie mit Millionen Beschäftigten und ihren in den vergangenen Jahrzehnten erkämpften Lohnstandards nur von Politik, Unternehmen und Gewerkschaften gemeinsam bewältigt werden.

Das gilt auch für die Digitalisierung der Produktionsprozesse, die unter dem Stichwort Industrie 4.0 von Wissenschaftlern, Ökonomen und Ingenieuren heiß diskutiert und in den Unternehmen schrittweise eingeführt wird. Auch hier stehen Millionen Arbeitsplätze auf dem Spiel, auch hier sehen sich die IG Metall und ihre Betriebsräte gefordert, die Interessen der Beschäftigten in den anstehenden Veränderungsprozessen zu vertreten. Auch hier rücken Themen wie Arbeitszeitverkürzung, Arbeitszeitgestaltung und Qualifizierung auf der Prioritätenskala der IG Metall und damit auch ihrem Kongress ganz nach oben.

Die Flexibilisierung der Arbeitszeit und des Arbeitslebens soll aus der unternehmerischen Verfügungsgewalt befreit und als individuelles Recht der arbeitenden Menschen gegenüber ihrem Arbeitgeber durchgesetzt werden – und das in sozial abgesicherter Form. Erste Arbeitszeitregelungen mit individuell wahrnehmbaren Freistellungsmöglichkeiten für Fortbildung und Familientätigkeiten hat die IG Metall bereits erstritten: Im Tarifabschluss von Februar 2018 wurde den Beschäftigten freigestellt, ob sie lieber mehr Geld oder mehr Freizeit haben wollten. Im Herbst teilte die Gewerkschaft mit: 180.000 Beschäftigte wollten lieber acht zusätzliche Tage frei haben.

Im Vorwort zu einem Debattenpapier für den kommenden Gewerkschaftstag ab Sonntag, schrieb der IG-Metall-Vorsitzende Hofmann, angesichts der anstehenden Umbrüche werde die Gewerkschaft für Gerechtigkeit und gesellschaftlichen Zusammenhalt eintreten und die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten aktiv gestalten, „wo nötig, auch im Konflikt mit den Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern“.