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Gewalttat im Oberlinhaus in Potsdam„Dienste gingen an die Substanz“

Vier Menschen mit Behinderung starben im April im Potsdamer Oberlinhaus. Im Prozess sagten nun weitere Mit­ar­bei­te­r*in­nen aus.

Die Angeklagte Ines R. im Landgericht Potsdam am 26. Oktober Foto: Carsten Koall/dpa

Potsdam taz | Am Landgericht Potsdam wurde am Montag und Dienstag der Prozess wegen der Tötung von vier Menschen mit Behinderung in einer Potsdamer Wohneinrichtung fortgesetzt. Am Dienstag, dem siebten Verhandlungstag, wurden erneut mehrere Mitarbeitende des Thusnelda-von-Saldern-Hauses, wo im April 2021 die Gewalttat geschah, als Zeu­g*in­nen gehört.

Zunächst sagten die beiden Pflegekräfte aus, die an dem Abend der Tat mit der Angeklagten Ines R. im Dienst waren. Die 27-jährige Irma O. war es, die als erste den Tod von Lucille H. feststellte. „Ich war geschockt und verwirrt und konnte mir das nicht erklären“, so die Zeugin vor Gericht. Dass die Frau, die nach einem Unfall schwerbehindert war, tot sei, hätte sie aber sofort gesehen: „Sie hatte glasige Augen und ihr Brustkorb hat sich nicht mehr bewegt.“ In das Zimmer von Lucille H. sei Frau O. gegangen, da sie zuvor zwei Anrufe des Ehemanns der Angeklagten bekam. Timo R. war besorgt, denn seine Frau sei „aufgelöst und verwirrt“ nach Hause gekommen.

Das Gericht versuchte durch die Befragung zu rekonstruieren, wie der Tagesablauf im Dienst vor der Gewalttat verlief. „Ganz normal“, sagte die Pflegekraft mehrfach. Alle drei kümmerten sich um die ihnen zugeteilten Bewohner*innen. Auch habe die Angeklagte Ines R. an dem Tag auf sie nicht anders gewirkt als sonst. In den Wochen davor jedoch habe sie eine Niedergeschlagenheit ausgestrahlt. Am Tag der Tat habe die Angeklagte ganz normal mit ihr und dem Kollegen Herrn A. die Pause verbracht, sich ein Video auf dem Handy von Herrn A. angeschaut, danach habe sie alleine eine Zigarette auf dem Balkon geraucht und alle drei hätten die Pflege für den Abend begonnen. Um 20.50 Uhr rief der Ehemann der Angeklagten bei der Polizei an und sagte, dass seine Frau auf ihrer Arbeit Menschen getötet habe.

Im Prozess berichtet die Heilerziehungspflegerin Frau S., dass ihr die Angeklagte gegen 20 Uhr im Hof begegnet sei und sie sich gegenseitig einen schönen Feierabend gewünscht hätten. Als sie am Folgetag erfuhr, dass Ines R. dringend tatverdächtig ist, sei sie geschockt gewesen.

Untergründig klingt auch das Thema Rassismus an

Während der Befragung der ersten Zeugin am Dienstag, der 27-jährigen Altenpflegerin Irma O., klingt untergründig auch das Thema Rassismus an. Die Angeklagte Ines R. habe eine Grillparty mit Kol­le­g*in­nen geplant und sei laut der Zeugin „unsicher [gewesen], ob sie auch Ausländer einladen“ solle. Auch sei Frau O. nicht eingeladen worden mit der Begründung, dass sie der Angeklagten „zu ruhig sei.“ Sie sei nie richtig „warm mit ihr geworden“, so Irma O. Im weiteren Lauf des Verhandlungstages fällt dann auch der Satz, dass Frau R. Vorbehalte gegenüber Menschen anderer Kulturen habe. Die Angeklagte verzieht zu den Äußerungen keine Miene.

Der darauffolgende Zeuge Diar A., der vor sechs Jahren aus Syrien nach Deutschland kam und ebenfalls an dem Abend im Dienst war, verneint die Frage, ob er das Gefühl habe, dass Ines R. ein Problem mit seiner Nationalität gehabt habe. In der Übersetzung eines Dolmetschers gibt er an, dass Ines R. eine „gute Kollegin“ gewesen sei und man sich unter Kol­le­g*in­nen geholfen hätte. Er hätte keine Erklärung für die Tat, beschreibt aber ebenfalls eine Überlastung bei der Arbeit, die er auch der Heimleitung gemeldet habe. Die im Anschluss befragte stellvertretende Pflegedienstleiterin sagte auf Nachfrage des Gerichts dieser Aussage entgegengesetzt, dass Ines R. offen gesagt habe, dass sie „mit den Kollegen mit Migrationshintergrund nicht viel zu tun hätte“ und es sie störe, dass man sich „nicht so gut unterhalten“ könne.

Unterstrichen wurde durch die Befragung von weiteren Oberlin-Mitarbeiter*innen die bereits geschilderte schwierige Personalsituation, die bis zum April 2021 geherrscht haben muss. Regelmäßig mussten nach Erzählungen des Pflegepersonals Abstriche in der Umsorgung der Be­woh­ne­r*in­nen gemacht werden: „Wenn man den Beruf liebt, dann will man das Beste für die Bewohner, und das ging nicht mehr“, so die 35-jährige Heilerziehungspflegerin Vivien S.

Auch Thomas K., der seit über sieben Jahren in der Einrichtung als Betreuungsassistent tätig ist, berichtet, dass er häufig pflegende Arbeiten übernehmen musste, wie Essen zu reichen. So sei häufig weniger Zeit für die Beschäftigung mit den Be­woh­ne­r*in­nen und Spaziergänge gewesen. Die „berüchtigten Zweier-Dienste gingen an die Substanz“, so der 52-Jährige vor dem Landgericht Potsdam. Über die psychischen Probleme und die regelmäßige Einnahme von Medikamenten der Angeklagten Ines R. wussten die meisten Mit­ar­bei­te­r*in­nen Bescheid, so Thomas K. In Gesprächen mit den anderen Mitarbeitenden hätten sie versucht, Erklärungen zu finden: „Jemand sagte dann, dass im Prinzip das schwächste Glied der Kette gebrochen ist“, so der Zeuge.

Verhandlungstag am Montag

Im Verhandlungstag am Montag war zuvor medizinisches Personal als Zeu­g*in­nen gehört worden. Unter anderem sagte der Gerichtsmediziner Knut A. aus, dass er die Angeklagte Ines R. am Tag nach der Tat bedrückt wahrgenommen habe und sie geschwollene Augen gehabt habe. Die Angeklagte gilt nach einem psychologischen Gutachten als vermindert schuldfähig. Sie wurde am Tag nach der Tat in eine psychiatrische Klinik eingewiesen.

Dort stand sie unter Sichtkontrolle, da der zuständige Arzt eine drohende Suizidgefahr sah. Unmittelbar nach der Tat habe sie nicht so gewirkt, als sei ihr die Tragweite der Tat bewusst. Zur Tat hat sich die Angeklagte vor Gericht bislang nicht geäußert. Beim ersten Prozesstag sagte sie jedoch ausführlich über ihre Kindheit und ihre Familie, ihre psychischen Probleme und über die Belastung bei der Arbeit aus. Auch ihr Mann wurde bereits vor Gericht befragt und sprach auch über den Tatabend, an dem seine Frau im verwirrten Zustand zu ihm gekommen sei. Dem entgegengesetzt beschrieb sie der Arzt, der die Angeklagte Ines R. wenige Stunden nach der Tat gesehen hatte, als entspannt, „fast gelöst“.

Am Montag sagte außerdem der Notarzt Christof M. aus, der in der Tatnacht die schwerverletzte Person versorgte, die die Tat überlebte. Sie habe einen bis zu 20 Zentimeter langen Schnitt am Hals gehabt, wofür in seiner Einschätzung ein sehr scharfes Messer oder starke Kraftanwendung nötig gewesen sei.

Der Mordprozess am Landgericht Potsdam wird am kommenden Dienstag fortgesetzt und nach aktuellem Stand bis zum 16. Dezember weitergeführt. Der zuständige Richter Theodor Horstkötter kündigte die Urteilsverkündung für den 22. Dezember an. Der Prozess hatte sich aufgrund von ausgefallenen Verhandlungstagen nach hinten verschoben. Die Sachverständige, die ein psychiatrisches Gutachten über die Angeklagte erstellte, soll am 9. Dezember aussagen.

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1 Kommentar

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  • Leider weiß ich, dass die beschriebenen Zustände nicht selten sind. Es ist eher die Ausnahme, ein tolles Heim für beeinträchtigte Menschen zu finden, bei dem man nicht Bedenken hat, den behinderten Angehörigen zurück zu lassen.



    Leider sind behinderte Menschen immer noch Menschen zweiter Klasse (wenn überhaupt). Es gibt eine viel zu kleine Lobby und die Politik macht ein Gesetz nach dem anderen, um es den Angehörigen noch schwerer zu machen.