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Gewalten tanzen

Der Choreograf Christoph Winkler überträgt Shakespeares blutrünstiges Königsdrama „Titus Andronicus“ in die Aktualität von Genomprojekten und Verstümmelungsorgien

Trotz Inhaltsschwere bringt Winkler die Sinnlichkeit des Körpers zum Ausdruck

Das Stück schwappt über vor Blut und Brutalität. Verrat, Mord, Verstümmelung und Vergewaltigung sind an der Tagesordnung in einem Spiel, das vierzehn von dreiundzwanzig Personen umkommen lässt. Nicht ohne Grund wird Shakespeares frühe Tragödie „Titus Andronicus“ heute nur noch selten gespielt, obwohl Theatersoziologen meinen, dass es für die Zeitgenossen des Dichters zu der überaus beliebten Sorte des bloody entertainment gehörte. Moderne Theatermacher hingegen scheint das Abbilden von Gewalt auf der einen, und die derb-plakative, in langen, unrhythmischen Monologtexten ermüdende Figurenzeichnung auf der anderen Seite von einer Neuinszenierung des 1594 entstandenen Stückes eher abzuhalten.

Nicht so Christoph Winkler. Der für seinen hohen Produktionsoutput bekannte Choreograf – achtzehn Stücke realisierte er in der freien Berliner Tanzszene innerhalb von vier Jahren – hat sich des sperrigen Stoffes um den römischen Feldherr angenommen. Nicht den gesamten „Titus Andronicus“ lässt Winkler etwa als antike römische Gewaltfantasie in seinem neuen Stück „Fatal attractions“ tanzen, nein, er selektiert den Mammutstoff nach der Brauchbarkeit für sein Thema: Körper, Unversehrtheit und Verstümmelung.

Winkler meint im Programmheft, dass der Begriff des Körpers ein „fragiles Konstrukt“ sei, das zu verschiedenen Zeiten verschiedene Bedeutungen trage und wechselnden „Formen der Konditionierung“ unterliege. Mit der Entschlüsselung des Genoms, die den Eingriff in menschliches Erbmaterial erleichtert, scheine nun eine weit über bisherige Grenzen hinaus reichende „Vision“ auf, die Vision vom perfekt gebastelten Menschen.

In seinem neuen Gruppenstück setzt Winkler nun diese kulturkritischen, seit Aldous Huxleys düsterem Sci-Fi-Roman „Schöne Neue Welt“ populären Überlegungen tänzerisch um. In erstaunlicher Weise verknappt der Choreograf die sprachlichen Sequenzen des Originals bei Shakespeare auf die Möglichkeit eines schnörkellosen Tanztheaters, das trotz seiner Inhaltsschwere nicht verkopft ist und eines glasklar zum Ausdruck bringt: die Sinnlichkeit des Körpers. So gelingt es Winkler mit seinem großartigen Tänzer-Schauspielerensemble (Miriam Kohler, Anna-Luise Recke, Odile Seitz, Peggy Ziehr, Ingo Reulecke, Benjamin Kiss, Florian Bilbao), von Phänomenen wie Zerstückelung und Amputationslust zu erzählen, verbal und zugleich in einer exzessiv-vorantreibenden Bewegungssprache.

Die schwarz gekleideten Darsteller tanzen auf fünf voneinander getrennten, weiß bespannten Podesten. Einzelparts lösen sich in Gruppenbildern auf, die nicht mehr synchron, sondern versetzt sind; Release-Techniken wechseln mit schwierigen Schrittkombinationen, graziles In-den-Raum-Wachsen mit adaptierten Tierformen des Kung Fu. Der schauerliche Monolog Lavinias, der Tochter des Titus, der von einer rachsüchtigen Königin und ihren Söhnen nach der Vergewaltigung die Zunge herausgeschnitten und die Hände abgehackt werden, kontrastiert mit Erzählungen von Menschen, die sich Beine oder Arme amputieren lassen möchten, um das Leben zu „spüren“.

Apotemnophilia nennt man diese Neigung, die in der Medizin als psychische Störung gilt. Winkler bewertet dies nicht, er zeigt es in einem ästhetisch geschützten Rahmen. Denn auf der Bühne tanzen keine freiwillig Amputierten, sondern schöne junge Tänzer, denen die Lust an der Bewegung aus jeder Pore dringt. Doch die Bedrohlichkeit, das Abseitige, die Vernichtung sind präsent. Und das berührt.

JANA SITTNICK

„Fatal attractions“, 3. 7. bis 6. 7., 20 Uhr, Theater am Halleschen Ufer

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