Gewalt und Chaos in Kenia: 70.000 Menschen auf der Flucht
Trotz internationaler Aufrufe, den Konflikt beizulegen, verhärten sich die Fronten zwischen Regierung und Opposition. Beide machen sich für die grausamen Gewaltexzesse verantwortlich.
NAIROBI taz Die Asche in der Kirche von Eldoret im Westen Kenias war noch warm, als die Regierung und die Opposition begannen, sich gegenseitig für den bislang schlimmsten Gewaltexzess nach den Wahlen verantwortlich zu machen. Mindestens 30 Menschen verbrannten am Sonntag bei lebendigem Leib, nachdem Unbekannte die Kirche der "Kenya Assemblies of God" angezündet hatten. Wie in fast alle Kirchen der Region hatten sich auch hierhin verängstigte Familien geflüchtet, deren Dörfer von ähnlichen Banden heimgesucht worden waren. "Die Angreifer tun sich in Gruppen von 500 bis 1.000 zusammen, bewaffnet mit Knüppeln, Macheten oder Pfeil und Bogen, und stecken Häuser in Brand", berichtet einer derjenigen, die rechtzeitig aus der Kirche fliehen konnten. "Es waren 400 Leute in der Kirche, vor allem Frauen und Kinder, die meisten Kikuyu", weiß Pastor Boaz Mudegwa.
Seit dem Brandanschlag haben sich die Flüchtlinge aus Angst selbst mit allem, was sie kriegen können, bewaffnet. "Wir haben überhaupt keinen Schutz, die vergangenen drei Tage haben wir unter freien Himmel schlafen müssen", sagt ein Flüchtling, der in einem Slum von Eldoret untergekommen ist. "Wir haben das Gefühl, dass diese Leute von der Polizei unterstützt werden, weil sie der gleichen Ethnie angehören." Ähnliches behauptet auch der Oppositionsführer Raila Odinga, der sich um seinen Wahlsieg betrogen sieht und der Regierung anlastet, sie wolle Angst und Schrecken verbreiten.
Doch das kenianische Kabinett, das zum überwiegenden Teil aus abgewählten Abgeordneten besteht, machte im Gegenzug am Mittwoch Odinga für die Ausschreitungen im Westen verantwortlich, wo mittlerweile mehr als 70.000 Menschen auf der Flucht sind. "Es ist klar, dass der Völkermord und die ethnischen Säuberungen, die wir jetzt sehen, von den Führern der Opposition detailliert geplant, finanziert und geprobt worden sind", hieß es in einer von Umweltminister Kivutha Kibwana verlesenen Erklärung des Kabinetts. Viele der Opfer der Unruhen seien Kikuyu, zu denen auch Präsident Mwai Kibaki zählt. Der Regierungssprecher Alfred Mutua sagte, es gebe keinen einzigen Vorfall, bei dem die Anhänger des Präsidenten einen Anhänger der Opposition verletzt hätten. "Verantwortlich für die Gewalt und "ethnische Säuberung" gegen die Kikuyu sei allein Odinga.
Die Menschenrechtlerin Gladwell Otieno hingegen glaubt, dass eher Angehörige der Kalenjin, der größten ethnischen Gruppe in Eldoret, für die Gewalt verantwortlich seien. Die Kalenjin hätten alle Söhne des früheren Diktators Daniel arap Moi abgewählt, was einer Revolution gleichkomme. "Dass man ihnen den schwer errungenen Sieg nahm, hat viele auf die Straße getrieben."
Begonnen hatten die Unruhen am Sonntag, kaum dass Präsident Kibaki zum Wahlsieger erklärt worden war. Am Mittwoch wurde die Zahl der Toten auf mehrere hundert geschätzt. Oppositionsführer Odinga wies den Vorwurf, er schüre Pogrome, scharf zurück. In den vergangenen Tagen habe er immer wieder zu Ruhe und Frieden aufgerufen: "Ich habe niemanden aufgerufen, irgendetwas zu tun; was passiert, ist außerhalb meiner Kontrolle." Nur der Wahlverlierer Kibaki, der sich als Gewinner ausgebe, könne die Gewalt beenden: "Er muss seine Niederlage eingestehen."
Doch danach sieht es derzeit nicht aus. Am Nachmittag lud Kibaki alle neu gewählten Abgeordneten in den Präsidentenpalast - ein weiterer Schritt, um seine Autorität als Präsident zur Schau zu stellen, obwohl das Gros der Abgeordneten Odingas Oppositionspartei angehört. Über den Verlauf des Treffens wurde zunächst nichts bekannt.
Eigentlich sollte am Mittwoch John Kufuor, der Präsident der Afrikanischen Union und Ghanas, in Nairobi eintreffen. Kibaki "lehne jede Art von Vermittlung ab", hieß es. Auch Appelle aus Großbritannien, eine große Koalition zu bilden, und der Aufruf von Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier, sich zu einigen, verhallten ungehört. Dabei zeichnete sich immer deutlicher ab, dass die Wahlen zweifellos zugunsten von Amtsinhaber Kibaki gefälscht wurden. Selbst der Wahlleiter Samuel Kivuitu, der trotz heftiger Proteste der Opposition Kibaki zum Sieger erklärt hatte, räumte inzwischen ein, er sei unter Druck gesetzt worden. "Vertreter von Kibakis Partei haben mich ständig angerufen und aufgefordert, sofort Ergebnisse zu liefern", sagte er. "Ich kann nicht sagen, ob Kibaki wirklich der Sieger ist." Unterdessen mehren sich die Gerüchte, dass die Regierung versucht, der von Wahlbeobachtern geforderten Neuauszählung zuvorzukommen. Die Kreiswahlleiter, die viele Beobachter für die Unregelmäßigkeiten verantwortlich machen, sollen am Mittwoch in das Hauptquartier der Wahlkommission gerufen worden sein, um gefälschte Dokumente zu unterzeichnen.
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